Rütlischwur
weitere Vorgehen nicht einig waren.
Die nächsten Minuten waren entscheidend. Das Geheimnis beim Pokerspiel lag darin, eine Situation richtig einzuschätzen. Vielleicht war sie deshalb mehr als eine recht passable Pokerspielerin geworden, dachte Judith. Weil sie den Augenblick richtig las. Es war kein bewusster Akt der Analyse, sondern Instinkt. Und sie verfügte über eine zusätzliche Gabe: Ihr Körper verriet diese Anspannung nicht. Kein Erröten im Bereich des Halsansatzes und der Wangen. Keine Veränderung der Pupillen. Keine Überproduktion der Talg- und Schweißdrüsen. Kaum eine Veränderung ihres Pulsschlags.
Sie würde acht Schritte brauchen bis zur Tür. Sieben weitere Schritte in hohem Tempo durch den Flur bis zur Treppe. Insgesamt fünfundzwanzig Meter Wegstrecke, schätzte sie; machbar in vier Sekunden. Usain Bolt schaffte in derselben Zeit fast das Dreifache.
Die drei Männer kamen auf sie zu. Der zweite Sechser, der sich bisher zurückgehalten hatte, nestelte bereits an seinem Hosenbund. Rechts von ihm der Fahrer. Noch im Gehen knöpfte er sich sein Hemd auf.
Dazwischen eine kleine Lücke. Ein knapper Meter vielleicht. Wenn sich die im falschen Moment schließt, dann kracht’s, dachte Judith.
Sie musste noch zuwarten.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Männer schnell genug reagierten, schätzte Judith auf unter fünfzig Prozent ein.
Der Moment war gekommen.
Jetzt!
Kapitel 7
Mit Rosa über alle Berge
W enn sich Kommissar Eschenbach am Montagmorgen um Viertel nach sieben zu Fuß auf den Weg begab, von seiner Wohnung quer durch die Innenstadt bis zu seinem Büro an der Zeughausstrasse, machte er immer bei Sprüngli halt und kaufte elf Buttergipfel.
Sie waren für die Leiter seiner vier Spezialabteilungen bestimmt, außerdem für Franz Haldimann vom Ermittlungsdienst und für Röbi Ketterer von der Technischen Analyse. Hinzu kamen die Chefs der Innen- und Außendienste und ein Stabsoffizier, die ebenfalls an der wöchentlichen Führungssitzung teilnahmen. Das Meeting begann stets um Punkt acht und dauerte nur in Ausnahmefällen länger als fünfzig Minuten.
Rosa Mazzoleni fertigte jeweils ein kurzes Protokoll an. Eschenbach konnte sich nicht erinnern, dass seine Sekretärin über all die Jahre nur ein einziges Mal krankheitshalber gefehlt hätte.
Für sie war der elfte Gipfel.
Auch wenn die Preise bei Sprüngli über die Dauer seiner Amtszeit ins Unermessliche gestiegen waren, so war Eschenbach dieser Geste stets treu geblieben.
In der obersten Etage im Präsidium war es merkwürdig still, als der Kommissar aus dem Lift trat. Die Hälfte der Deckenleuchten war gar nicht eingeschaltet, und an den meisten Schreibtischen war der Computerbildschirm schwarz. Kein Mensch war zu sehen.
»Verdammt, was ist hier los?«, grummelte Eschenbach und sah auf die Uhr. Es war zehn Minuten vor acht. Er ging an Rosas Schreibtisch vorbei. Auch ihr Computer war aus und der Schreibtisch leer wie ein frischgemähtes Kornfeld. War Rosa gar nicht zur Arbeit gekommen, Rosa, die immer schon um sieben hier war?
Eschenbach wurde unsicher. Hatte er sich in der Zeit vertan? Seine Uhr hatte er umgestellt, sich mehrfach vergewissert, dass sie auch richtig ging. Auch die Geschichte mit der Winterzeit konnte nicht der Grund sein. Es war der 29. August – Montag früh, kurz vor acht. Und im obersten Stock, in der Führungsetage der Kriminalpolizei, sah es aus, als würden als Nächstes die Möbel geholt.
Warum hatte niemand etwas gesagt?
Eschenbach legte die Tüte von Sprüngli auf Rosas leergefegten Tisch. Dann ging er weiter, öffnete die Tür zu seinem Büro und schaltete das Licht ein.
Das Bild von Tinguely fiel ihm als Erstes auf. Es hing nicht mehr an der Wand, sondern stand auf dem Teppichboden neben zwei Kartons. Sein Arbeitsplatz sah genauso verlassen aus wie der von Rosa.
Eschenbach schritt durch sein Büro, öffnete die Schränke und Sideboards und realisierte mit wachsendem Erstaunen, dass sie alle ausgeräumt waren. Leer, vom ersten bis zum letzten Regal.
Sein Büro war nicht mehr sein Büro.
Er setzte sich auf den schwarzen Ledersessel, drehte sich einmal um die eigene Achse und schüttelte den Kopf. Im ersten Karton fand er seine persönlichen Sachen wieder: einen Aschenbecher, den er im Hotel Quellenhof in Bad Ragaz hatte mitgehen lassen, zwei halbvolle Schachteln Brissago und einen übergroßen Taschenrechner, einen Haufen Zündhölzer, Plastikfeuerzeuge und zwei komplette Jass-Karten-Sets mit
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