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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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ge­sehen, waren Anrufe übers Mobilnetz eher die Regel als die Ausnahme. Es war die Uhrzeit, die Judith stutzig machte. Es konnte unmöglich etwas Geschäftliches sein, nicht um halb elf Uhr abends. Und was das Private anging, so hatte Judith nicht die geringste Lust, mit Imholz zu verkehren.
    »Bist du immer noch in Zürich?«, fragte er nach einer kurzen Begrüßung.
    »Ich, ja … Doch.« Judith war verwirrt. Sie hatte mit keiner Silbe erwähnt, dass sie an diesem Tag in Zürich sein würde. Auch im Teamkalender hatte sie nichts eingetragen. Und spontan kam ihr niemand in den Sinn, dem sie von der Pokerrunde erzählt hatte. Hatte Kurt ihr nachspioniert? War er an ihrem PC gewesen?
    Von Kurt Imholz wusste Judith lediglich, dass er in Scheidung lebte, Marathon lief und ein kleines Ferienhäuschen am Thuner See hatte. In Faulensee – was für ein Name für einen Ort! Dass er sich um dieses Häuschen mit seiner Christina (oder Christine) stritt. Und dass es in diesem Streit für ihn nicht gut aussah.
    Sie wusste wenig, und dazu kam, dass das wenige sie nicht interessierte.
    »Entschuldige, dass ich so spät noch störe. Aber ich hab’s vorher schon ein paarmal versucht.«
    »Ich war im Kino, sorry.«
    »Kein Problem. Es gibt eine Sache, die ich gern persönlich mit dir besprechen würde. Wegen deinem Job … ist rein beruflich.«
    »Jetzt?«
    Imholz lachte kurz auf. »Wie gesagt, ich habe es schon früher versucht. Und mehr Vorlauf hatte ich nicht. Es ist eine klassifizierte Operation, und ich musste zuerst ein paar Leute davon überzeugen, dass du die Richtige bist. Aber jetzt sind wir so weit. Es ist so eine Art Bewerbungsgespräch, ein kurzes. Etwas speziell, ich weiß. Komm bitte vorbei, dann können wir es dir in aller Ruhe erklären.«
    »Jetzt verpasse ich wohl gerade den Zug«, sagte Judith. Sie hatte sich ans Brückengeländer gelehnt und blickte hinüber zum beleuchteten alten Gemäuer des Landesmuseums. »Das dauert jetzt sicher über eine Stunde, bis ich in Bern bin.«
    »Wir sind im Hotel Gotthard, an der Bahnhofstrasse«, sagte Kurt. »Das große Sitzungszimmer im ersten Stock, links. In Zürich natürlich. Luftlinie keine fünfhundert Meter von dir entfernt.«
    Judith wusste nicht, was sie sagen sollte. Woher wusste ihr Chef, wo sie gerade war?
    »Bist du noch da?«
    »Ja.«
    »Also gut. Wir erwarten dich. Der Concierge unten weiß Bescheid.«
    Judith war verwirrt. Sie steckte ihr Handy ein und zählte langsam zurück von zehn auf zwei. Dabei stellte sie sich die Spielkarten vor, in abwechselnder Reihenfolge der Farben: Pik-Zehn, Kreuz-Neun, Herz-Acht, Karo-Sieben und so weiter. Die Karten, die kein Gesicht hatten. Nur Symbole und Zahlen.
    Es war ihre Konzentrationsübung für schwierige Pokerpartien, für Situationen, in denen sich ihr Unterbewusstsein aufführte wie ein Fuchs im Hühnerstall.
    »Ich muss mich frisch machen«, sagte Judith zehn Minuten später im hellen Licht der Bahnhofsapotheke. Ihr Gegenüber, eine junge Pharmaassistentin, sah sie mit aufgerissenen Augen an: »Sie brauchen einen Arzt.«
    »Wenn Sie kein Blut sehen können, dann holen Sie mir den Apotheker«, sagte Judith und steuerte auf ein Gestell mit Kosmetika zu. »Ich brauche Desinfektionsspray und irgendwelche Tücher … Verdammt. Es muss schnell gehen. Ich muss gleich wieder weg.«
    »Ich hole Herrn Rorschacher.«
    »Ja, tun Sie das.« Judith zog einen Schminkspiegel aus dem Regal, nahm sich Make-up, Haargel und ein Parfum von Issey Miyake, dann folgte sie der Angestellten.
    Was wollte Imholz von ihr? Als sie die Stelle bei der FINMA, der Finanzmarktaufsicht in Bern, angenommen hatte, war es mehr aus Trotz als aus Überzeugung gewesen. Mit ihrem hervorragenden Studienabschluss, hatte sie gedacht, wäre es ein Leichtes, bei einer großen Investmentbank unterzukommen. Aber was man ihr angeboten hatte, waren bessere Sekretärinnenjobs und Trainee-Programme gewesen. Jobs, die sie nicht wollte. Und zweimal hatte man ihr nach vielversprechenden Vorstellungsgesprächen abgesagt. Die FINMA bedeutete we­nigs­tens ein Minimum an intellektueller Herausforderung. Wenn sie schon nicht am Spiel der großen Finanzhäuser teilhaben konnte, wollte sie diese Institute wenigstens überwachen.
    Als staatliche Aufsichtsbehörde war die FINMA mit hoheitlichen Befugnissen über Banken, Versicherungen, Börsen und Effektenhändler ausgestattet. Sie war zuständig für die Geldwäschereibekämpfung, wickelte Sanierungs- und Konkursverfahren

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