Rütlischwur
je erreicht wurden, stammen aus der Zeit des Kalten Krieges. Christina Brehmer, Irena Szewinska, Jarmila Kratochvilová und Marita Koch. Frauen aus dem Ostblock, aus Polen, Tschechien und der DDR. Die schnellste Zeit (und der noch immer gültige Weltrekord bei den Frauen) wurde am 6. Oktober 1985 von Marita Koch gelaufen. Vor fünfundzwanzig Jahren.
Seit dem Fall der Mauer ist keine Frau nur annähernd an die 47,60 Sekunden herangekommen. Die 400 Meter läuft man nur wirklich schnell, wenn man entkommen will.«
Ernest hatte ihr diesen Willen eingeimpft. Den Willen zu entkommen. Manchmal hasste sie ihn dafür. Er hatte auch eine liebenswürdige Seite, verbarg sie aber geschickt, so wie er vieles verbarg. Judith konnte die seltenen Momente an einer Hand abzählen, in denen es ihr gelungen war, die Güte und die Verletzlichkeit von Ernest zutage zu fördern. Er war ein kalter Krieger geblieben, vielleicht der Letzte seiner Art.
Auf sich allein gestellt zu sein bedeutete für ihn Freiheit.
Weil Judith regelmäßig trainierte, konnte sie das Tempo problemlos halten. Nur ihre Stirn schmerzte. Sie hatte das Gefühl, dass mit jedem Pulsschlag Blut aus der Wunde spritzte. Ein weiteres Mal hatte sie mit der Hand hingefasst und sich, während sie rannte, die roten Finger angesehen. Nur kurz, sie durfte sich nicht ablenken lassen. Es blieben noch 150 Meter. Danach würde sie den Kopf wenden, um nachzusehen, ob die Männer in Sichtweite waren.
Aber es war keiner zu sehen. Schnaufend hielt sie an, stellte sich in den Schutz eines Hauseingangs und wartete, bis sich Atem und Puls beruhigten.
Der Eingang gehörte zu einem Mehrfamilienhaus. Ein halbes Dutzend Briefkästen war seitlich in die Mauer eingelassen, und eine gläserne Tür mit Aluminiumrahmen führte in die Dunkelheit eines Hausflurs. Sie knipste das Außenlicht an. Das Glas wirkte nun wie ein Spiegel. Judith betrachtete sich: Die rechte Gesichtshälfte war blutverschmiert. Sie rieb das verklebte Auge mit dem Ärmel ihrer Bluse, dann suchte sie in ihren Jeans nach einem Taschentuch, fand aber nur den Schlüsselbund, das Handy und vier Hunderternoten. In ihrer Gesäßtasche steckte ihr Portemonnaie mit den Ausweisen, den Kredit- und Bankkarten. »Leichtes Gepäck«, murmelte sie. Auch das war ein Ausspruch von Ernest. Den Umständen entsprechend, konnte sie zufrieden sein. In der Wohnung zurückgeblieben waren nur das schwarze Jackett und ihr Birkin-Bag. Sie hatte die Tasche (eine Kopie) auf einem Flohmarkt in Bern erstanden; Made in China – für hundertfünfzig Franken. Darin hatte sie ihr Schminkzeug und ein Päckchen Tempotaschentücher – Dinge, die sie nun hätte gebrauchen können.
Die Eingangsbeleuchtung erlosch, und ihr Gesicht verschwand aus dem Glasspiegel. Im Schutz der Dunkelheit beobachtete Judith die Straße. Als sie weder die schwarze Limousine noch einen der Männer entdecken konnte, ging sie weiter in Richtung Central. Ihre Beine fühlten sich steif und zittrig an. Ihre nackten Füße schmerzten. Nach zehn Schritten wurde es besser. Judith schaltete ihr Handy ein: zwanzig nach zehn. Wenn sie sich beeilte, würde sie den Intercity nach Bern noch erwischen, dachte sie.
Sie war damals von Zürich weggezogen, um ein neues Leben anzufangen. Ein Jahr vor Abschluss ihres Studiums, als sie beschlossen hatte, mit dem Pokern aufzuhören. Ihre Reisen zu internationalen Turnieren, viele davon in den USA, und die durchzockten Nächte am Computer hatten ihre Spuren hinterlassen. Sie hatte an chronischer Schlaflosigkeit gelitten und war durch eine mittelschwere Neurodermitis an den Händen und im Gesicht gezeichnet gewesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie mit dem Pokern über eine halbe Million Schweizer Franken verdient.
Seither lebte sie in Bern. Die ruhige Atmosphäre der Stadt tat ihr gut. Sie führte ein geregeltes Leben, ohne Aufputsch- und Schlafmittel und vor allem ohne die Spielkarten, die sie zunehmend in ihren Bann gezogen und auf eine schleichende Weise krank gemacht hatten.
Mitten auf der Bahnhofsbrücke erreichte sie der Anruf von Kurt Imholz. Imholz war ihr direkter Vorgesetzter, Leiter der Abteilung Bankenrecherche bei der FINMA in Bern.
Wie angewurzelt blieb Judith stehen. Es war nicht ungewöhnlich, dass ihr Chef sie auf dem Handy anrief. In ihrer Funktion als Teamleiterin bei der Aufsicht Vermögensverwaltungsbanken und Effektenhändler verbrachte Judith mehr als fünfzig Prozent ihrer Zeit außerhalb des Zentralbüros in Bern, so
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