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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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ab und wachte mit Argusaugen über Übernahmen und Kaufangebote bei börsennotierten Unternehmungen.
    Die FINMA war ein Habicht unter Geiern.
    Nach einem dreimonatigen Einführungsprogramm war Judith einer kleinen Spezialeinheit zugeteilt worden. Gemeinsam mit Mathematikern, Juristen und Finanzmarktspezialisten sollte sie Unregelmäßigkeiten bei Kapitalmarkttransaktionen aufspüren und analysieren.
    Der Apotheker kam. Er war ein großer, behäbiger Mann mit fleischigen Händen. Er bat Judith in ein Nebenzimmer. »Können Sie stehen?«, fragte er.
    Als Judith nickte, setzte er sich auf einen hohen Schemel; ihre Augen waren nun auf gleicher Höhe, und Judith sah, wie sich seine schweren Lider hoben und senkten. »Ich sehe nur die eine Platzwunde an der Stirn, der Rest ist verschmiertes Blut.« Er stand auf und fragte: »Haben Sie den Wodka getrunken oder nur zum Desinfizieren gebraucht?«
    »Ist mir ins Gesicht geschüttet worden.«
    »Ach so.« Er deutete mit der Hand zum Waschbecken. »Wenn Sie wollen, dass es schnell geht, dann halten Sie den Kopf dadrunter. Danach kleben wir die Sache mit Steri-Strip zusammen.«
    Judith war überrascht, wie ruhig und präzise die großen Hände arbeiteten. Das Resultat war passabel, fand sie, als sie eine Viertelstunde später in den Spiegel schaute. Ihr dunkles Haar hatte sie mit viel Gel nach hinten gekämmt und ihren Teint mit Abdeckstift und Puder aufgefrischt.
    »Wechseln Sie Ihren Freund, wenn’s geht«, sagte Rohrschacher, als er den Betrag in die Kasse tippte.
    Das Hotel St. Gotthard lag auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber. Ein etwas düsterer Bau aus der Gründerzeit, jener Epoche, in der die letzten Postillione sich mit Kutschen über den großen Berg in den Süden quälten und in der roter Plüsch noch wirklichen Luxus bedeutete.
    Mit den neuen Schuhen, die sie nach ihrem Besuch in der Apotheke im Shop Ville gekauft hatte, betrat Judith die Eingangshalle.
    Kurt Imholz erwartete sie bereits. »Mein Gott, ich dachte schon …« Er betrachtete ihr Gesicht und verzog den Mund: »Bist du unter den Zug gekommen?«
    »Soll ich wieder gehen?«
    Imholz schüttelte den Kopf, führte sie zur Treppe, und gemeinsam gingen sie in den ersten Stock. »Ich stell dir die Leute vor … Dann wäre ich froh, wenn du erst mal zuhören würdest. Der Rest ergibt sich.«
    Judith hörte zu.
    Abgesehen von ihrem Chef, saßen drei weitere Männer am Tisch. Ein Pik-König, ein Herz-Bube und eine Karo-Fünf.
    Der schwarze König stellte sich vor. Er hieß Paul Zimmer. In seiner Funktion war er stellvertretender Direktor des Strategischen Nachrichtendienstes, SND. Ein unscheinbarer, dunkelblonder Typ von mittlerer Statur. Grauer Anzug, weißes Hemd und Goldbrille.
    Judith dachte, dass eine Menge Leute Mühe hätten, sich nach einer Begegnung an Zimmers Gesicht zu erinnern.
    »Es gibt drei Gründe, weshalb wir Sie heute hierher gebeten haben«, sagte Zimmer und faltete das Blatt, auf das er sich zuvor etwas notiert hatte. »Erstens haben Sie keinerlei familiäre Bindungen. Ihre Eltern sind tot; Geschwister sind uns keine bekannt, und was Männer betrifft – entweder sind Sie zu wählerisch oder lesbisch.«
    Arschloch, dachte Judith.
    »Sind Sie lesbisch?«
    »Nein.«
    »Und Kinder?«
    Judith verneinte auch diese Frage mit einem kurzen Lächeln.
    »Dann stimmen unsere Angaben«, fuhr Zimmer fort und wechselte einen kurzen Blick mit Imholz. »Es ist uns wichtig, dass Sie nicht erpressbar sind. Ihre charakterliche Disposition ist ungewöhnlich stark; unter normalen Bedingungen sind Sie nicht käuflich.«
    »Man müsste dein Kind entführen, damit du dir untreu wirst«, ergänzte Imholz.
    »Wenn ich denn eins hätte«, sagte Judith. »Aber ich hab’s auch so begriffen.«
    »Genau«, sagte Zimmer und faltete den Zettel ein weiteres Mal. »Das ist der zweite Grund, der für Sie spricht. Sie verfügen über eine hohe multiple Intelligenz. Bei Frauen kommt das häufiger vor als bei Männern – ist aber sehr selten. Abgesehen von Ihrer eigenwilligen Sensibilität für Spielkarten, haben Sie ein außerordentliches Talent für Zahlen und, was noch beeindruckender ist, eine rasant schnelle Auffassungsgabe, auch bei kompliziertesten Zusammenhängen.« Zimmer nahm ein Blatt Papier zur Hand. »Herr Imholz war so freundlich und hat uns etwas über Sie zusammengestellt:
    Mit sechsundzwanzig, als Jüngste Ihres Jahrgangs, schlossen Sie in Zürich Ihr Ökonomiestudium ab; mit summa cum laude und

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