Rütlischwur
sie ihm schon in Kanada mehr als deutlich gesagt.
Christian verteilte den Rest aus der Magnumflasche auf die Gläser und sagte: »Und was das Fachliche betrifft … Du weißt, da kannst du jederzeit auf mich zurückgreifen.«
Nach den »Öpfelchüechli« mit viel Vanilleglacé und zwei Runden Espressi mit Grappa fühlte sich der Kommissar schwer wie ein Kampfpanzer vor einem Übungsgefecht. »Vielleicht hast du ja recht«, sagte er. »Ich werde mit Banz so verbleiben, dass ich mir das erst mal in aller Ruhe ansehen werde. Ein zeitlich begrenztes Mandat. Wenigstens bis ich Klarheit habe, was Hösli mit der Kantonspolizei vorhat.«
Und kurz nach zehn Uhr nahm er Anlauf, sagte mehrmals »also …« und rief den Bankier an. Direkt aus dem Restaurant, vom Tisch aus, weil er wusste, dass er es später vielleicht nicht mehr tun würde.
Christian Pollack hob den Daumen.
Banz war gerade aus Vancouver zurück und voller Tatkraft, er schlug gleich den nächsten Morgen als Arbeitsbeginn vor: »Ich weiß, es ist für dich ein Sprung ins kalte Wasser … Drum legen wir am besten gleich los.«
Eine Stunde später verabschiedeten sich die beiden Freunde gut gelaunt, und Eschenbach machte sich auf den Heimweg. Eine laue Spätsommernacht hing über der Stadt. Überall herrschte Betrieb. Vor dem Odeon standen die Stühle so dicht auf dem Gehsteig, dass Eschenbach Mühe hatte durchzukommen. Er überquerte die Straße, warf einen Blick in den Garten des Terrasse ; auch dort war jeder Tisch besetzt. Gemütliches Gemurmel und leises Lachen waren zu hören. Der Kommissar zündete sich eine Brissago an.
Im Spätsommer ist Zürich eine fröhliche Stadt. Auf der Limmat tanzten Lichter wie kleine, brennende Schiffchen, und das Grossmünster hob blasiert seine beiden Türme über die umliegenden Dächer empor, hinauf in einen violetten Himmel.
Mit einer temporären Aufgabe bei der Banque Duprey würde er keine Brücken abbrechen, dachte der Kommissar. Es war ein Engagement auf Zeit; vielleicht auch ein kleines Machtspiel mit Sacher und Hösli, in dem er seine Unabhängigkeit demonstrieren konnte. Und dann würde er sich sein Zürich zurückerobern.
Auch Chefbeamte hatten einen Marktwert.
Vor dem Einschlafen rief er zweimal Corina an. Er wollte ihr seinen Entschluss mitteilen. Aber als sich nur die Combox meldete, hinterließ er keine Nachricht.
Am nächsten Tag war alles anders.
Es begann gleich nach dem Aufstehen, mit der Auswahl von Hemd und Krawatte. Dann schmeckte der Kaffee nicht so wie immer. Das Aroma war durch den Wind – vermutlich, weil die Bohnen schon zu lange in der Büchse eingeschlossen waren und darin nicht atmen konnten.
Als Eschenbach das Haus verließ, hatte auch er das Gefühl, zu lange in derselben Büchse gewesen zu sein. Er stapfte in Richtung See zur Arbeit, also in exakt entgegengesetzter Richtung wie früher. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, als ginge er in fremden Schuhen durch eine fremde Stadt.
Das Gebäude der Banque Duprey lag an der Rämistrasse zwischen Bellevue und dem Schauspielhaus. Eine schlichte, neoklassizistische Fassade in dunkelgrün gestrichenem Sandstein stieg in den herbstlich grauen Himmel auf.
So wie es schien, hatte Banz seine Truppe instruiert. Von der mageren, in einem dunkelblauen Kostüm versinkenden Frau am Empfang bis zu den älteren Herrschaften in der Chefetage empfingen ihn die Leute wie einen verloren geglaubten Sohn.
»Willkommen bei uns, Doktor Eschenbach!«
Der Kommissar, der von seinem akademischen Titel nie Gebrauch machte, erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal so angesprochen worden war.
Er versuchte die Namen und Gesichter beisammenzuhalten, baute sich Eselsbrücken und bekräftigte, dass er sich auf seine Aufgabe bei Duprey freue.
Der Name, den er so schnell nicht mehr vergessen würde, war der von Frau Liselotte Liebgrün. Sie war die Personalchefin der Bank – Head of Human Resources , wie sie sagte. Die kleine, schlanke Frau Anfang fünfzig war damit betraut worden, ihn an diesem Morgen durch die Gänge zu führen und mit den wichtigsten Leuten bekannt zu machen.
Händeschüttelnd und lächelnd, versuchte Eschenbach die Struktur des Hauses zu verstehen. Von den leitenden Mitarbeitern blieb ihm vor allem Charles de Stouz in Erinnerung. Der übergewichtige Chef der EDV-Abteilung wirkte nervös. Schon bevor sie sich die Hand schüttelten, war dem Kommissar aufgefallen, wie de Stouz sich die Innenfläche seiner Hand am Hosenbein abgewischt
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