Rütlischwur
hatte. Der Mann schwitzte. Als eine der ersten Aufgaben würde er sich wohl die Zugriffsrechte der EDV-Leute ansehen müssen, dachte Eschenbach, bevor er kurz vor Mittag sein Büro bezog.
Der quadratische Raum von ungefähr fünf mal fünf Metern lag im zweitobersten Stock. Gegenüber dem Eingang war ein Fenster mit schräg gestellten Jalousien. An den Wänden links und rechts hingen alte Stiche von Zürich aus der Zeit der Pfahlbauer.
»Hier arbeitete bis vor kurzem Herr Dubach«, sagte Frau Liebgrün. Sie deutete auf einen schwarzen Schreibtisch mit Aluminiumbeinen. »Außer den vier Partnern der Bank, Ihnen und mir hat bei Duprey niemand ein Einzelbüro.«
Die Compliance -Abteilung der Banque Duprey umfasste neun Leute: vier Juristen, drei Assistentinnen, einen Praktikanten und eine Praktikantin. Sie waren seine direkten Mitarbeiter. Eschenbach hatte sich mit jedem von ihnen kurz unterhalten. Er hatte das Gefühl, dass einige von ihnen verunsichert waren, und dachte deshalb daran, im Laufe der nächsten Tage mit allen ein Einzelgespräch zu führen. Es war wichtig, gleich zu Beginn Vertrauen zu schaffen. Auf diesem Weg war es sicher möglich, etwas über Peter Dubach zu erfahren.
Eschenbach musterte seine neue Umgebung und nickte. Pult, Ledersessel, ein Besprechungstisch mit vier Stühlen, zwei Regale und ein Schrank. Alles von USM Haller, modern und funktional. Nur die altertümlichen Bilder an den Wänden passten nicht dazu. Ein Fehlgriff, dachte der Kommissar. Tradition und Moderne waren zu einer Zwangsehe verdonnert worden; zumindest was das Optische betraf, keine sehr glückliche Heirat.
»Ach, Frau Liebgrün …« Eschenbach blickte an ihr vorbei auf einen Stich, der das Grandhotel Bellevue um 1890 zeigte. »Ich brauche die Personalakte von Peter Dubach. Und wenn wir schon dabei sind: dann auch gleich noch die Akten aller Zu- und Abgänge während der letzten zwölf Monate.«
Frau Liebgrün sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Eschenbach lächelte so gewinnend wie möglich zurück.
»Bitte«, ergänzte er höflich. »Und alles, was wir während dieser Periode an Bewerbungsunterlagen bekommen haben, ebenfalls.«
Frau Liebgrüns Mund öffnete sich, aber sie sagte nichts. Es war ein stummer Schrei, wie auf dem Gemälde von Edvard Munch.
»Sie können mir das alles elektronisch schicken. Ich denke, so sparen wir uns eine Menge Zeit.«
»Elek-tro-nisch?« Frau Liebgrün geriet ins Stottern.
»Elektronisch oder Papier, egal.« Eschenbach ging ein paar Schritte auf den Schreibtisch zu. Eine Arbeitsunterlage aus grauem Nubukleder; daneben ein großer Flachbildschirm und ein elegantes Multifunktionstelefon. »Und dann wäre ich froh, wenn Sie mir jemand vorbeischicken könnten, der mir die ganze Technik hier erklärt.«
Einen kurzen Moment schien es, als wollte Frau Liebgrün noch etwas sagen. Aber sie sagte nichts. Nur ein leises Ein- und Ausatmen war zu hören. Dann verließ sie das Büro.
Eschenbach ging zum Fenster und schaute auf die Rämistrasse hinunter. Lautlos wie bunte Käfer krochen die Autos hintereinander her. Oh, du lieber Augustin, summte Eschenbach. Er dachte an das versteinerte Gesicht von Frau Liebgrün. Aus heiterem Himmel hatte er das Hoheitsgebiet der Personalchefin attackiert – die Personalakten! Ein äußerst sensibler Bereich, das wusste der Kommissar aus seiner Zeit als Beamter. Es war immer dasselbe. Vielleicht hätte er ihr sagen sollen, dass es nicht die Löhne und Bonuszahlungen waren, die ihn interessierten, sondern die Menschen. Er wollte mit den Personaldossiers beginnen, weil er von Menschen mehr verstand als von Bilanzen.
Eschenbach ging die restlichen Schritte zum Tisch und ließ sich in den Sessel fallen. Hatte Frau Liebgrün vielleicht wegen Dubach so reagiert? Während er überlegte, fuhr er mit beiden Händen über die Schreibunterlage. Man hat aufgeräumt, dachte er. Das war ihm als Allererstes aufgefallen, direkt nachdem er den Raum betreten hatte. Unweigerlich dachte er an seinen eigenen Arbeitsplatz, den er in der Kasernenstrasse zurückgelassen hatte.
Unter dem Schreibtisch stand ein schwarzer Rollkubus. Eschenbach zog die Schubladen eine nach der anderen heraus. Er fand Schreibpapier, Kuverts, Kugelschreiber, Büroklammern, Tacker und so weiter. Keine Kaugummis, kein Familienfoto und keine Hustenbonbons. Wo waren Dubachs persönliche Sachen?
Eschenbach machte sich eine To-do-Liste. Punkt fünf erledigte sich von selbst, denn kurz nach zwei Uhr kam Rosa
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