Rütlischwur
den Zugangscode zu erinnern, schlief er ein. Als er wieder aufwachte, schien die Sonne durchs Fenster. Er stand auf, trat in den schmalen Lichtkegel und blinzelte. Es war kurz vor acht Uhr. Eschenbach las die Zeit vom Display seines Handys.
Über Nacht war eine SMS von Corina eingegangen:
Geht es dir eigentlich gut?
Gut oder noch gut?
Die Zeile wandelte auf dem schmalen Grat zwischen Besorgnis und Empörung.
Eschenbach fand Bruder John im Büro der Bibliothek. Der kleine, beleibte Mann saß vor einer großen Kiste wie vor einem Weihnachtsgeschenk. Er strahlte: »Ein paar wunderschöne lateinische Schriften haben wir heute bekommen.«
»Ich muss mit Judith sprechen.«
»Salve!«
»Wo ist sie? Und kommen Sie mir nicht wieder mit irgendwelchen Geschichten. Raus mit der Sprache!«
Mit einem tiefen Seufzer klappte John die Kartondeckel zu und erhob sich. »Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Erinnern Sie sich, was ich Ihnen gesagt habe … Ich meine, bevor Sie der junge Rennfahrer mitgenommen hat?«
Eschenbach überlegte. Er setzte sich auf den mächtigen Tisch, auf dem eine Menge Kisten und Bücher gestapelt waren. »Sie haben gesagt, dass Judith auf eigene Faust ermitteln würde.«
»Haec, quemadmodum exposui, ita gesta sunt.« *
Der Kommissar musterte die hellen kleinen Augen hinter der Nickelbrille. »Sie testen mich, nicht wahr?«
»Ihr Latein?«
Eschenbach schüttelte den Kopf, halb lachend, halb weil es ihm bitterernst war: »Mein Latein ist miserabel, um das geht es nicht. Sie wollen wissen, ob ich mich an Judith erinnere. Da kann ich Sie beruhigen.«
»Umso besser.«
»Gegen Judith besteht ein Haftbefehl. Zudem hat die Frau ein paar Jugendsünden auf dem Kerbholz … ein Vorstrafenregister, das sich gewaschen hat. Das macht die Sache nur noch schlimmer.«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Mein lieber Bruder John«, begann der Kommissar mit ausgesuchter Höflichkeit. »Es ist schon sehr merkwürdig. Wenn ich Sie etwas frage, dann sagen Sie, Sie wissen’s nicht. Und im Gegenzug, wenn ich Ihnen etwas erzähle, dann scheinen Sie über alles informiert zu sein. Ist das nicht paradox?«
»So ist es«, sagte der Mönch. »Aber es ist nicht wirklich ein Paradoxon. Es lässt sich erklären: Sie sind Polizist … Ganz bestimmt ein guter. Ich hingegen bin Lehrer. Wenn ich meinen Schülern eine Frage stelle, dann kenne ich die Antwort bereits im Voraus. Das ist ein wichtiger Unterschied. Das Leben wird um vieles einfacher, wenn man die Antworten auf die eigenen Fragen kennt.«
»O Gott!«
»O ja, der … der kennt sowieso alle Antworten.«
Die beiden unterschiedlichen Männer sahen sich eine Weile an.
»Judith ist eine ehemalige Schülerin von Ihnen«, begann Eschenbach von neuem. »Sie fühlen sich noch immer für Sie verantwortlich … Sie mögen sie, das ist verständlich.«
»Genau.«
»Aber wir kommen keinen Schritt weiter so. Helfen Sie mir, bitte!«
»Ich versuche es.«
»Ich habe mir Judiths Bewerbungsunterlagen angesehen. Sie ist hier in die Stiftsschule gegangen. Die Jahreszahlen habe ich nicht mehr im Kopf …«
»Judith war dreizehn, als sie zu uns kam.«
»Und in den Unterlagen steht, dass sie hier die Matura gemacht hat.«
»Mit Bestnoten.«
»Danach Studium der Nationalökonomie in Zürich. Summa cum laude und so weiter … Das hab ich alles. Mich interessiert, was vorher war. Irland.«
»Ich bin Schotte.«
»Irland, John. Was wissen Sie über ihre Zeit dort? In den Unterlagen steht nichts darüber. Aber wenn ich das Strafregister der jungen Dame ansehe, dann steht dort eine ganze Menge.«
»Ja.«
»Wer sind ihre Eltern? Wenn man hier an die Stiftsschule will, dann kommt man nicht wie ein Meteorit einfach durchs Dach geschossen.«
John räusperte sich. »Judith schon … Ich meine, sie hat das Fenster zur Bibliothek eingeschlagen, ich kann mich noch gut erinnern. Zuerst dachten wir, sie wolle nur etwas zu essen.«
Der Mönch erzählte Eschenbach, wie alles angefangen hatte und wie es ihm später gelungen war, Judiths Ziehvater in Irland ausfindig zu machen. »Sie ist Vollwaise, ihre Eltern sind noch an der Unfallstelle verstorben. Judith hat wie durch ein Wunder überlebt.«
»Und aufgewachsen ist sie dann bei diesem …«
»Ernest Bill – ein Freund der Familie. Übrigens ein recht merkwürdiger Mensch. Das habe ich schon nach den ersten Briefen gemerkt. Wissen Sie, Herr Kommissar, es gibt Eltern, die rufen mich alle zwei Wochen an und erkundigen
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