Rütlischwur
sich, wie es um ihr Kind steht. ›Klappt es denn mit Elodie?‹ – so als ob es mit Kindern klappen könnte. Früher habe ich mir noch die Mühe gemacht, mir dazu etwas aus den Fingern zu saugen. Als junger Lehrer tut man das, weil man denkt, die Eltern haben ein Anrecht auf eine Standortbestimmung. Aber das ist Unsinn.«
Eschenbach dachte an Kathrin und daran, dass er nicht einen blassen Schimmer hatte, wie es in Vancouver in der Schule lief.
»Ernest Bill war anders. In den fünf Jahren, die Judith bei uns in die Stiftsschule gegangen ist, haben Ernest und ich fünf Gespräche miteinander geführt. Pro Schuljahr eines. Immer am 1. August, am Schweizer Nationalfeiertag, gegen zwei Uhr am Nachmittag. Da hat er mich angerufen, Jahr für Jahr. Und jedes Mal hat er immer dieselbe Einstiegsfrage gestellt: ›Regnet es bei euch, John?‹ Also, ich habe mich gewundert, das sage ich Ihnen. Und dann wollte er wissen, ob wir im Kloster denn Feuerwerk hätten. Wieder so eine Frage!« John schüttelte den Kopf.
»Über Judith wollte er nichts wissen?«
»Das dachte ich zuerst auch. Dem ist das völlig egal … Ich meine, da muss man sich doch wundern, oder?«
Eschenbach nickte.
»Und ob wir Lampions hätten und Girlanden! Stellen Sie sich das vor, in einem Kloster!«
Wieder Kopfschütteln.
»Und als keine weiteren Fragen mehr kamen, ich meine, nach dem Wetter, dem Feuerwerk und den Girlanden … Also, da habe ich dann halt von mir aus erzählt. Es gab ja auch nur Erfreuliches zu berichten. Judith war äußerst wissbegierig und lernte sehr schnell. Sie sog alles auf, wie ein Schwamm, der lange ausgetrocknet war. Das war dann der längere Teil unseres Gesprächs. Aber auch das war merkwürdig. Weil Ernest keine Fragen dazu gestellt hat. No feedback at all! «
»Und das ging immer so?«, wollte Eschenbach wissen.
»Genau. Allerdings ist im zweiten Jahr ein Kurier vorbeigekommen, zwei Tage bevor Ernest angerufen hat. Mit einem großen Paket mit Feuerwerk! Dazu Lampions und rote Kerzen mit Schweizer Kreuzen.«
»Und?« Eschenbach wusste nicht recht, was er von der Geschichte halten sollte.
»Nichts und«, sagte John. »Das zweite Gespräch verlief wie das erste, abgesehen davon, dass wir jetzt Feuerwerk hatten und dass ich ihn gleich am Anfang fragte, ob es ihn denn überhaupt interessiere, wenn ich über Judith spreche.«
»Was er natürlich bejahte.«
»Richtig. Es würde ihn sehr interessieren, hatte er gesagt. Und ich dachte mir, dass es schon merkwürdig ist, keine Fragen zu stellen, wenn einen etwas sehr interessiert.«
»Vielleicht hatte Judith Kontakt zu ihm?«
»Sehen Sie, Herr Kommissar, das ist es, was ich am wenigsten verstehe. Während ihrer ganzen Schulzeit hat sich Judith ausgeschwiegen, wenn es um Ernest ging. Sie hat so getan, als gäbe es ihn überhaupt nicht.«
»Und heute?«, wollte Eschenbach wissen.
»Dominium generosa recusat« * , bemerkte John mit einem Lächeln. »Kinder müssen sich emanzipieren. Und in dieser Hinsicht hat es Judith auf die Spitze getrieben. Aber keine Sorge, die beiden haben sich wiedergefunden, bei der Maturafeier. An diesem Tag habe ich Ernest zum ersten Mal gesehen. Ich kann mich noch genau erinnern. Als ich Judith rufen wollte, hat er nur abgewinkt und gemeint, es brauche wohl etwas Zeit. Und wie recht er doch hatte: Den ganzen Abend habe ich beobachtet, wie Judith und Ernest ihre Kreise zogen. Wie zwei Planeten, jeder für sich allein … Als wollte keiner in die Laufbahn des andern geraten. Und dann muss es passiert sein. Ich hatte eine kleine Ansprache gehalten, mich danach mit einigen der Eltern unterhalten und Judith eine Weile aus den Augen verloren. Und als ich sie wiedersah, saß sie mit Ernest an einem Tisch, und sie sprachen miteinander.«
»Sie trägt ja auch seinen Familiennamen.«
»Sie sagen es.« Der Bruder dachte lange nach, bevor er langsam mit dem Kopf nickte und weitersprach. »Ernest hat für Judith das Schulgeld entrichtet. Das kann ich Ihnen verraten … Auch wenn es dazu überhaupt keine Belege gibt.«
»Geldüberweisungen hinterlassen immer Spuren«, sagte Eschenbach.
»Auch wenn der Betrag bar bezahlt wird?«
Nun horchte Eschenbach auf. »Dann wird es in der Buchhaltung einen Vermerk geben, nehme ich an.«
John schüttelte den Kopf. »Ernest wünschte, dass die Zahlungen anonym blieben. Immer am Tag vor Heiligabend ist ein Kurier gekommen, derselbe übrigens, der auch das Paket mit dem Feuerwerk gebracht hat. Und der hat mir dann
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