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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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auf.

Kapitel 19
    Die Ökonomie der alten Männer
    D er Vogel war natürlich ausgeflogen.
    »Wir können sie ja nicht einsperren«, sagte John mit einem Unterton der Erleichterung.
    Eschenbach musterte das kleine Zimmer: Die Wände waren ockergelb gestrichen und leuchteten im einfallenden Morgenlicht. Ein Poster hing über dem Bett, sauber eingerahmt: Pink Floyd – The Wall . Bücherregal, Tisch und Stuhl waren aus hochwertigem Eichenholz gefertigt.
    »Fürs nächste Mal, Dr. Watson«, sagte der Kommissar und blickte zu John. »Wenn wir bei der Polizei eine Verhaftung vornehmen, dann tun wir das immer früh am Morgen, so zwischen sechs und sieben Uhr.«
    »It’s the early bird that catches the worm.«
    »So ist es.«
    »Aber wir wollen Judith doch gar nicht verhaften, oder?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    John atmete erleichtert auf.
    »Haben Sie ein Auto?«
    »Brauchen wir denn eins?«
    Auf der Fahrt zurück nach Zürich war Eschenbach froh, dass er John für eine Weile los war. Es war nicht einfach gewesen, seinem neuen Assistenten klarzumachen, dass er, Eschenbach, der federführende Hauptkommissar in der Causa Banz, das Gespräch mit Alfred Kaltenbach allein führen wollte. Zudem brauchte er Zeit, um in aller Ruhe nachzudenken. Ob es John gelang, ein Treffen mit Ernest Bill zu arrangieren? Diesen Auftrag hatte er dem Ordensbruder noch erteilt, bevor er eilends zum Bahnhof gelaufen und in den Zug eingestiegen war. Vielleicht hatte John ja Talent und erwies sich als ein würdiger Assis­tent.
    Der neue CEO der Banque Duprey war das pure Gegenteil seines Vorgängers Banz. Dies war Eschenbach bereits während der Abdankungsfeier im Grossmünster aufgefallen. Aber jetzt, da er Kaltenbach in dessen Büro gegenübersaß, war der Unterschied noch offensichtlicher. Kaltenbach war Anfang fünfzig, von schmächtiger Statur und bescheidenem Auftreten. Eschenbach glaubte bei ihm nicht einen Funken Humor zu erkennen; überhaupt hatten ihn offenbar die Lebensgeister verlassen oder hielten gerade noch ein Minimum der Grundfunktionen in Gang. Der große Kopf, der wie in Stein gehauen auf einem Hühnerhals saß, zitterte leicht, als Kaltenbach mit leiser Stimme das Gespräch eröffnete:
    »Sie haben sich bestimmt Gedanken gemacht, wie es mit Ihrem Engagement bei uns weitergehen soll.«
    »Ich habe einen Vertrag«, sagte Eschenbach. »Ich nehme an, Sie kennen die Vereinbarung.«
    »In dieser Sache hat mich Herr Banz nicht um meine Meinung gefragt. Vermutlich wusste er, dass ich ihm davon abgeraten hätte. Sie sind Polizist, Herr Eschenbach. Es gibt Dinge, die passen einfach nicht zusammen.«
    »Ich bin Jurist … Meine Frage war, ob Sie den Vertrag kennen.«
    Der große Kopf auf dem dünnen Hals nickte. »Es gibt einen Punkt, dem Sie vielleicht bisher keine Beachtung geschenkt haben.«
    »Ich bin gespannt.«
    »Nun, Sie haben den erwähnten Vertrag bestimmt bei sich.«
    »Nicht hier … Er ist bei mir zu Hause.«
    Eschenbach sah in Kaltenbachs dunkle Augen. Dieser verdammte Vertrag, dachte er, ist in meiner verdammten Wohnung, zu der ich verdammt noch mal keinen Schlüssel habe.
    »Aber ich weiß, was drinsteht.«
    »Dann ist ja gut«, sagte der Banker. »In diesem Fall wissen Sie so gut wie ich, dass der Vertrag zwischen Ihnen und Herrn Banz abgeschlossen wurde.«
    »Zwischen wem denn sonst?«
    »Mit Jakob Banz als Privatperson.«
    Und Banz war tot, und damit war der Vertrag, den Eschenbach mit dem Verstorbenen eingegangen war, an dessen Erben übergegangen. Schlagartig war Eschenbach alles klar. Die Banque Duprey hatte keinerlei Verpflichtungen ihm gegenüber. Da ging sie hin, die Abfindung.
    Kaltenbach erklärte diesen Sachverhalt weit ausführlicher, als es nötig gewesen wäre.
    »Tja«, sagte Eschenbach mit dem Ausdruck eines Pokerspielers, dessen Bluff gerade aufgedeckt wurde.
    »Tja!«, sagte auch Kaltenbach.
    »Und Ihren Bemerkungen entnehme ich, dass meine Dienste bei der Banque Duprey nicht weiter gefragt sind.«
    »Exakt, wie Sie’s sagen, Herr Eschenbach. Genau genommen müsste man sogar festhalten, dass Sie nie in dieser Bank gearbeitet haben.«
    »De facto aber schon.«
    »De jure aber nicht.«
    Wie es bei Fachsimpeleien gelegentlich vorkommt, blieben am Ende nur noch zwei abstrakte Worthülsen übrig: Gesetz und Wirklichkeit; von jeher zwei weit auseinanderliegende Ufer, zwischen denen ein Meer brandete. Und weil Eschenbach ein halbes Leben auf diesem Ozean herumgeschippert war, die Tiefen und Untiefen kannte

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