Rütlischwur
miteinander verbunden. Abgesehen vom hellen Stein der Böden, Wände und Decken gab es nichts zu sehen.
Walthers Haus war eine Katakombe in Weiß; ein Labyrinth, bewusst darauf ausgerichtet, dass der Besucher die Orientierung verlor. So jedenfalls kam es Judith vor.
»Ich habe mein Leben darauf verwendet, Schließsysteme zu entwickeln«, sagte Walther, während er um die nächste Ecke bog. »Ein Vermögen habe ich damit verdient, mit der Angst der Menschen, dass ihnen etwas abhandenkommt. Hier ist alles offen.«
Unvermittelt traten sie in einen Wohnbereich. Wie schon die Eingangshalle war auch dieser Raum von imposanter Größe. Judith atmete auf. Eine breite Glasfront lenkte ihren Blick auf den Zürichsee; es schien, als ströme das tiefe Blau des Wassers direkt in das von Licht durchflutete Zimmer.
Sämtliche Möbelstücke, Sitzpolster, Tische, Stühle – auch der Konzertflügel von Steinway, der in der Mitte des Raums stand –, alles, was Judith erblickte, war im selben Weiß wie der Laaser Marmor gehalten.
Walther bot Judith einen Platz auf der Couch an und setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.
»Es existieren keine Farben in diesem Haus. Jedenfalls keine, die von Menschenhand gemacht sind. Das haben Sie sicher bemerkt. Keine Bilder an den Wänden … Nichts von all den Dingen, für die Freunde von mir einen Haufen Geld ausgeben. Es ist ein Jammer. Denn die wirklichen Farben schenkt uns die Natur.«
»Dieses Blau …« Judith hatte Mühe, ihren Blick dem Wasser zu entziehen.
»In Wirklichkeit ist es nur gebrochenes Licht.« Walther erhob sich und ging ein paar Schritte in Richtung Fenster. »Wenn Sie den Zürichsee ausschöpfen, wird nichts von diesem wundervollen Blau übrig bleiben. Sie können es nicht besitzen, das ist phantastisch. Ein Geschenk! Verglichen damit, ist Picasso nur ein Schmierfink.«
Judith beobachtete Walther. Trotz seines fortgeschrittenen Alters und der stattlichen Größe lag etwas Katzenähnliches in der Art, wie er sich bewegte.
»Die meisten Menschen sind nämlich farbenblind.«
Judith betrachtete die hünenhafte Silhouette Walthers vor dem Fenster. »Wie meinen Sie das?«
»Ich spreche nicht von dieser lächerlichen Rot-Grün-Geschichte … sondern ganz generell. Die Leute sehen die Farben zwar, aber sie verstehen sie nicht.«
Judith, die keinen blassen Schimmer hatte, worauf Walther hinauswollte, lächelte.
»Wenn Sie auf den See schauen, was sehen Sie?«
»Blau«, sagte Judith.
»Fixieren Sie dieses Blau eine Weile, und dann schließen Sie die Augen.«
Judith gehorchte.
»Nun drehen Sie den Kopf zur Seite und öffnen die Augen wieder.«
Judith tat wie geheißen.
»Und jetzt, was sehen Sie?«
Etwas Seltsames geschah. Vor dem Hintergrund der weißen Möbel und Wände sah Judith den Zürichsee rot.
»Ich sehe Rot«, sagte sie.
»Da staunen Sie, was?« Walther kam vom Fenster zurück zur Sitzgruppe. »Dieses Phänomen hat Goethe entdeckt, im Schnee, als er im Dezember 1777 auf den Brocken im Harzgebirge gestiegen war. Ein äußerst mühsames Unterfangen damals …«
»Die Komplementärfarbe«, bemerkte Judith.
»Es gibt eine Innenwelt der Außenwelt.«
Judith schloss die Augen, um sie gleich darauf wieder zu öffnen. Aber der rote Fleck verschwand nicht.
»Ist es das Blut an Ihren Händen, Judith? Haben Sie Jakob Banz umgebracht?«
Judith setzte ihr Pokerface auf. »Es war eine Frage der Zeit, bis Sie hier auftauchen. Das hat der Ernest schon gemeint. Und jetzt, da Sie wissen, wie es um die Bank steht …«
Walther setzte sich wieder. Er gab dabei einen tiefen Laut von sich, wie das Brummen eines Bären. »Jetzt wollen Sie wissen, wie die Geschichte ausgeht.«
»So ist es.« Judith zögerte keine Sekunde. »Ich habe mir die Zusammensetzung des Verwaltungsrats von Duprey angesehen: Ernest, Banz, Sie und Andreas Holdener. Vier gestandene Männer, hohe Milizoffiziere der Schweizer Armee, die obendrein dem Zürcher Freisinn angehören und die sich – abgesehen von Banz – aus dem aktiven Geschäftsleben zurückgezogen haben.«
»Der Zürcher Freisinn ist tot«, sagte Walther. »Das wissen Sie so gut wie ich. Und dass es mit Jakob so enden musste, tut mir leid. Es ist tragisch.«
»Sie weichen mir aus«, sagte Judith.
»Na gut, was wollen Sie?«
»Die Banque Duprey blutet aus«, sagte sie in klarem, sachlichem Ton. »Während der letzten fünf Jahre sind dort über zehn Milliarden Franken verschwunden. Spurlos. Ich habe mir die Transaktionen
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