Ruf der Drachen (German Edition)
übersehen hätte – doch als ich mit den Handflächen über das Holz strich, als streichele ich das alte Instrument, fühlte ich ganz deutlich die Einkerbungen. In Sekundenschnelle war mir klar, was ich vor mir hatte. Ich ging auf die Knie, um das Symbol genauer zu betrachten, und merkte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. Tatsächlich! Da war sie, die geheimnisvolle Sonne. Und dieses Mal war keiner der Strahlen besonders hervorgehoben – dafür aber der Punkt in der Mitte umso deutlicher. Kein Zweifel, hier im Dom war ich am richtigen Ort. Es musste hier eine Botschaft geben. Nur wo?
Ich ließ den Blick über das Orgelgehäuse wandern – und blieb an einer Tür hängen, die sich so nahtlos in das Holz einschmiegte, das sie kaum auffiel. Meine Gedanken begannen zu flirren, verknüpften das, was ich über Orgelbau wusste, mit den rätselhaften Botschaften des Unbekannten. Eine Orgel bestand aus verschiedenen Teilen: einem Bereich, den man von außen sah – und einem Innenleben. Der Kern!
Ich erhob mich, hastete zu der kleinen Tür, die nur durch einen winzigen Metallhaken verschlossen war, und öffnete sie vorsichtig. Dann trat ich hindurch, hinein in das Herz des alten Instruments.
Der Holzboden knarrte leise unter meinen Schuhen und der deutliche Geruch von Staub schlug mir entgegen. Er war hier noch viel stärker wahrzunehmen als im Kirchenraum selbst. Offensichtlich hatte schon lange Zeit niemand mehr das Innere der Orgel betreten – weder ein Instrumentenstimmer noch jemand, der einfach nach dem Rechten sah und überprüfte, ob alle Funktionen der Orgel noch intakt waren. Ich arbeitete mich langsam vor und ließ den Blick aufmerksam schweifen. Wo konnte ein Hinweis verborgen sein, der mich weiterbrachte?
Es wurde enger. Ich zwängte mich zwischen einigen hölzernen Streben hindurch, fand eine Nische, in der ich mich wieder aufrichten konnte – und dann fiel mein Blick auf eine Inschrift im Holz. Mein Atem stockte und vor Aufregung tanzten die Buchstaben vor meinen Augen.
Im Kern der Stadt. Zu Recht bist du einer der Unsrigen und ich nenne dich Freund. Wende den Blick und unweit von hier siehst du den Ort des Umbruchs. Wenn die Blätter fallen, stirbt das Alte und die Sterbenden atmen auf. Was bleibt?
Meine Kehle fühlte sich plötzlich wie ausgedörrt an und das lag nicht nur an der trockenen Luft in diesem Orgelgehäuse. Nein, ich hatte tatsächlich den Hinweis gefunden. Aber wieso nur wurde ich das Gefühl nicht los, dass die Botschaften und die Rhythmen der Wasserspeier nicht recht zusammenpassten? Manchmal schienen sie vom selben Urheber zu stammen, dann wieder nichts miteinander zu tun zu haben. Es war und blieb merkwürdig.
Neun Speier und ihre inneren Stimmen … Wende den Blick und du siehst den Ort des Umbruchs …
Was war damit nur gemeint? Hier drin konnte ich mich wenden, wohin ich wollte, einen möglichen Ort für eine Revolution würde ich nicht zu sehen bekommen.
War der Platz gemeint, an dem der Dom stand? Sollte hier etwas geschehen? War vielleicht etwas in dem alten Bauwerk verborgen, das im Zuge der Sanierungen wieder ans Licht kommen würde? Aber wie passte das zu der Aussage, dass Sterbende aufatmen und Altes sterben würde?
Ich seufzte leise und rieb mir die Augen. Egal, wie lange ich auch grübelte, ich kam nicht weiter. Es wurde spät, ich war hungrig und müde – und außerdem hatte ich das Gefühl, Maren eine halbe Ewigkeit nicht gesehen zu haben. Sie fehlte mir.
Zeit, nach Hause zu gehen. Wenn ich dann noch Lust dazu hatte, würde ich mich dort den merkwürdigen Rhythmen widmen. Dem einzigen Ansatzpunkt, den ich noch hatte. Es führte kein Weg daran vorbei. Ich musste die Sprache der Speier entschlüsseln. Oder meine Suche aufgeben.
***
Eine beklemmende Stille lag über der Abfertigungshalle und auch die wenigen geflüsterten Gespräche der Wartenden konnten nicht über das Unbehagen hinwegtäuschen, das sich hier in jede Mauerritze geschlichen zu haben schien. Schon nach wenigen Augenblicken wurde mir klar, warum der Berliner Volksmund diesen Ort »Tränenpalast« getauft hatte.
Das Gebäude, eine Konstruktion aus Stahl und Glas, deren betont offene Gestaltung wie ein höhnisches Lachen wirkte, erinnerte mich mit seinen pastellblauen Kacheln an das Schwimmbad meiner Kindheit. Wider Erwarten passierte ich die Vorkontrolle ohne Probleme, doch direkt nach dem Eintreten verdichtete sich die Atmosphäre so schlagartig, dass es mir schier den Atem nahm.
Ich ging
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