Ruf der Drachen (German Edition)
Herzklopfen trat ich ein und sofort umfing mich das für alte Kirchen typische Dämmerlicht. Ich sah Baugerüste an den Wänden aufragen, frontal den Altar und links davon, abgedeckt von weißen Tüchern, die Kanzel. Über allem lag eine dicke Staubschicht und ich spürte ein leises Knirschen unter den Schuhsohlen, als ich mich weiter vorwagte. Es war vollkommen still. Außer mir schien niemand im Gebäude zu sein.
Auf dem Weg durch das Kirchenschiff sah ich hinauf zur gigantischen Kuppel, die inzwischen restauriert war und in allen Facetten von Weiß und Gold strahlte. Dann ließ ich den Blick über die Wände schweifen. Weit und breit war nichts zu sehen, was auch nur entfernt an einen Wasserspeier erinnerte. Doch die Atmosphäre war so faszinierend und die Stille so wohltuend für meine überreizten Nerven, dass ich nach und nach alle geheimnisvollen Ecken und Winkel des Doms erkundete.
Vor der imposanten Orgel blieb ich schließlich stehen. Einige Wochen zuvor war ich in der Musikbibliothek der Universität über einen kleinen Artikel zur Domorgel gestolpert, erinnerte mich aber jetzt nicht mehr daran, wer sie erbaut hatte. Mir war lediglich noch im Gedächtnis, dass die Orgel Anfang des 20. Jahrhunderts eingeweiht worden war und damals als größte und eindrucksvollste in ganz Deutschland galt. Sie hatte auch die durch Kriege verursachten Schäden am Kirchenbau weitgehend intakt überstanden, was in Anbetracht der Zerstörung des Doms alles andere als selbstverständlich war.
Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete neugierig die steil aufragenden Orgelpfeifen, die im Dämmerlicht matt-silbern schimmerten.
Das wäre etwas für Maren.
Sie konnte mit Tasteninstrumenten einfach viel mehr anfangen als ich.
Ich beschloss, mir das Instrument aus der Nähe anzusehen, um Maren später detailliert davon erzählen zu können. Vielleicht würde ich damit unser Gespräch füllen können, sodass Maren nicht allzu viele Fragen nach einem gewissen toten Rabbiner stellte …
Nach kurzem Suchen entdeckte ich den Zugang, der zur Orgelempore hinaufführte. Sie ließ sich problemlos erklimmen. Ein nervöses Prickeln durchflutete mich, als ich schließlich neben dem gewaltigen Instrument stand und das Kirchenschiff unter mir lag. Es hatte den Reiz des Verbotenen, hier herumzuspazieren. Jemand, der sich nicht für Musik und ihre Geschichte begeistern konnte, würde das vielleicht nicht nachvollziehen können, doch für mich war es aufregend, ein Relikt aus einer anderen Zeit genau unter die Lupe nehmen zu können. Die Klaviaturen, die Pedale, die Register, die Pfeifen aus Holz und Metall. Ich strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über die elfenbeinernen Tasten und dann über das dunkle Holz des Orgelgehäuses, das hier und da feine Risse aufwies. Traurige Zeugnisse der Bombendetonationen im Zweiten Weltkrieg und nicht zuletzt von Dysregulationen in der Luftfeuchtigkeit.
Ein dumpfer Druck legte sich auf meine Brust. Das Instrument wirkte aus der Nähe wie ein schwerverletzter, gestrandeter Wal und plötzlich war ich froh, dass Maren nicht bei mir war. Der schlechte Zustand der Orgel wäre ihr ganz sicher an die Nieren gegangen.
Mein Blick fiel auf die Pfeifen, die wie stille Wächter in die Höhe ragten. Ich streckte die Hand aus und berührte vorsichtig das Metall. Ein merkwürdiges Vibrieren lief durch mich hindurch und ich zuckte überrascht zurück. Was war das?
Vorsichtig unternahm ich einen weiteren Versuch, doch dieses Mal blieb das Gefühl aus. Trotzdem hatte es mich an etwas erinnert: an meine erste Berührung des Wasserspeiers in Friedenau! Es war das gleiche Prickeln gewesen, dieselbe Überraschung. Was hatte das zu bedeuten? Standen die Orgelpfeifen in einer Verbindung zu den Wasserspeiern?
Ich zog scharf den Atem ein. War ich hier im Dom vielleicht doch am richtigen Ort, auch wenn sich kein Drache finden ließ?
Kurzentschlossen kletterte ich auf das Gehäuse, um besser an die Orgelpfeifen heranzukommen, und untersuchte sie genauer. Plötzlich durchzuckte mich ein verrückter Gedanke. Es war das gleiche Material! Der Stoff, aus dem die Wasserspeier gebaut worden waren – und die Orgelpfeifen im Berliner Dom! Das konnte kein Zufall sein.
Nein, ganz sicher gab es hier irgendwo einen Hinweis darauf, dass die Speier und die Orgel zusammengehörten! Nur warum, das war mir noch nicht klar.
Ich fand die achtstrahlige Sonne an der Rückseite des Orgelgehäuses. Die Gravur war so klein, dass ich sie fast
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