Ruf der Drachen (German Edition)
Der Jüdische Friedhof im Norden. Und wenn ich den Worten von Isaac Heim Glauben schenkte, dann gab es vielleicht einen weiteren am Ku’damm. Ich setzte ein kleines Kreuz auf den Prachtboulevard im Westteil der Stadt und ein Fragezeichen daneben.
Dann wanderte mein Blick auf das Notenblatt. Noch immer konnte ich mir keinen Reim auf die Rhythmen machen, die ich aufgeschrieben hatte. Aber genau dort musste das innerste Geheimnis der Wasserspeier versteckt sein und in Verbindung mit der Zahl 9 irgendein brisantes Datum enthüllen, das eine Revolution ankündigte.
Ich runzelte die Stirn. Konnte ich sicher sein? Was, wenn es doch nicht neun Speier waren, sondern nur acht? Wenn die Mitte durch Leere gekennzeichnet war? Das wäre so philosophisch, dass ich es dem Verfasser der Warnung durchaus zugetraut hätte …
Mir blieb also nichts anderes übrig, als in der Mitte Berlins nach dem Ort zu suchen, an dem alle Fäden zusammenliefen. Doch wo konnte das sein? Die Stadt war riesig. Welcher Ort war symbolträchtig genug, um dort eine Botschaft zu hinterlassen? Und wo würde man am ehesten einen Wasserspeier finden?
Ich dachte nicht im Traum daran, jetzt aufzugeben, so verwirrend das alles auch sein mochte. Das deutliche Gefühl, diesem Unbekannten, der in seinen Botschaften vor einer Revolution warnte, ganz dicht auf den Fersen zu sein, hatte mich schon längst wie ein Jagdfieber gepackt. Ich hatte keine Ahnung, warum ich all das hier tat, aber es war wichtig. Ich musste einfach herausfinden, was es mit diesen Botschaften auf sich hatte! Und dafür brauchte ich noch mindestens einen Wasserspeier.
Mein Blick blieb an einer Stelle auf der Karte hängen und ganz unwillkürlich schlich sich ein Grinsen in meine Mundwinkel. »Ich wette, DA hast du die Auflösung versteckt!«, murmelte ich in mich hinein, stand auf und faltete die Karte mit klammen Fingern zusammen.
Erneut prüfte ich, ob ich beobachtet wurde, doch ich konnte niemand Verdächtigen entdecken. Umso besser. Bei dem Gang, der mir jetzt bevorstand, war ich lieber ungestört.
***
Der Dom warf in der Nachmittagssonne lange Schatten, die sich bis zum glitzernden Wasser der Spree hinzogen. Ich legte den Kopf zurück und betrachtete nachdenklich den gewaltigen Kuppelbau, der erst vor einigen Jahren von den Kriegsschäden saniert worden war. Die Bauarbeiten im Inneren des Gebäudes dauerten noch immer an, doch inzwischen konnte man wieder eine Vorstellung davon gewinnen, wie beeindruckend die Kirche vor ihrer Zerstörung gewesen sein musste. Momentan fehlte mir für die ausgiebige Bewunderung der Architektur allerdings ein wenig der Sinn.
Ich hatte in der vergangenen Stunde den Dom umrundet und gründlich jeden Winkel abgesucht. Kein Wasserspeier. Und weit und breit auch keinen Hinweis auf das Sonnensymbol. Zweifel beschlichen mich. Hatte ich mich geirrt? War der Dom doch nicht der gesuchte Ort? Ich war mir so sicher gewesen! Der Kern der Stadt im Visier …
Da stellte sich die Frage, was jemand als »Kern« bezeichnete. War nicht für jeden etwas anderes wichtig? Genauso gut könnte ich drüben auf der Museumsinsel in den Trümmern suchen oder vielleicht am Alexanderplatz oder am Hackeschen Markt! Ich unterdrückte ein Seufzen und setzte mich auf die Stufen vor dem Eingang. Ich musste in Ruhe nachdenken, vielleicht fiel mir doch noch etwas Entscheidendes ein, was ich bisher übersehen hatte.
Mein Blick wanderte hinüber zum Palast der Republik, dessen braun getönte Spiegelscheiben im weichen Licht des Tages wie Gold funkelten, und dann weiter nach links, wo sich die graue Nadel des Fernsehturms in den Himmel reckte. Trotz des kalten Windes, der schneidend um die Häuserecken fegte und die Wasser der Spree zu feinen Wellen aufkräuselte, waren die Straßen belebt. Sonntägliche Spaziergänger, Familien mit Kinderwagen, Fahrradfahrer, hupende Autos. Ich schien in eine Sackgasse meiner Überlegungen geraten zu sein, während um mich herum das Leben einfach weiterlief.
Minute um Minute verstrich, während ich das Gefühl hatte, dass meine Gedanken sich nur noch weiter verknäulten. Schließlich rappelte ich mich ein wenig resigniert auf. Wenn ich schon einmal hier war, dann konnte ich das Innere des Doms auch noch unter die Lupe nehmen. Die Chance, in der Kirche selbst einen Wasserspeier zu finden, erschien mir zwar verschwindend gering – doch alles war besser, als weiter ratlos hier in der Herbstkälte herumzusitzen.
Die Tür war nicht verschlossen. Mit leichtem
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