Ruf der Drachen (German Edition)
unter die Haut fraß?
»Geht dir das manchmal so?«, fragte ich leise.
Mirella hielt meinem Blick stand, doch ein Flackern trat an die Stelle des amüsierten Funkelns in ihren Augen. Sie öffnete die Lippen, wie um etwas zu sagen und …
»Mirella! Hast du nichts zu tun?«
Gunnar Thiel stand in der Tür, ohne dass wir es bemerkt hatten. Ich wusste nicht, wie viel er mitbekommen hatte. Doch war das nicht auch egal? Mirella hatte schließlich nichts preisgegeben. Was auch immer sie mir hätte sagen können …
Sie drängte sich an mir vorbei, zog ein Blatt Papier aus der Tasche ihrer Jeans und drückte es ihrem Vater in die Hand.
»Ich brauche deine Unterschrift für den Kongress.«
»Später.«
»Jetzt.«
Er nahm ihr das Blatt ab, zog eine Brille aus der Brusttasche seines Jacketts, setzte sie auf und überflog den Text. Dann schnaubte er leise. »Der Kongress der Jungen Astronomen in Wien? Seit wann interessierst du dich für Sterne?«
Mirellas Miene blieb reglos wie eine Maske.
»Kann nicht schaden, auch mal was anderes zu machen, oder?«
Ich sah, wie Gunnar Thiel sie skeptisch über die randlosen Gläser seiner Brille fixierte. Dann zückte er einen Kugelschreiber und setzte seine Unterschrift unter das Blatt.
»Eigentlich dürfte ich dich gar nicht dort hinschicken, das weißt du. Mach keinen Blödsinn!«
Mirella schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Danke, Paps.« Dann drehte sie sich um, zwinkerte mir noch einmal verschwörerisch zu und rannte den Gang hinunter. Ich sah sie um eine Ecke biegen, hörte das laute Knallen einer Tür – dann legte sich Stille über uns.
»Kongress Junger Astronomen?«, fragte ich und merkte, dass sich viel mehr Fragezeichen in meinem Tonfall spiegelten als mir recht war.
Gunnar Thiel seufzte leise. »Ja, ein internationales Treffen von … Ach, egal!« Er machte eine wegwischende Handbewegung. »Momentan interessiert sich meine Tochter ständig für was anderes. Und meiner Meinung nach etwas zu sehr für einen der Akademieschüler, der – raten Sie mal – ein Faible für Astronomie hat. Aber das ist ein Thema für sich.«
Er schloss die Bürotür hinter sich. »Gehen wir!« Damit schritt er so zielstrebig Richtung Treppe, dass ich vollkommen überrumpelt erst einmal stehen blieb, wo ich war. In meinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Alleine würde ich nie wieder aus diesem Labyrinth von Gängen und Fluren herausfinden, soviel war klar. Mir blieb also nichts anderes übrig, als Gunnar Thiel zu vertrauen. Ich unterdrückte ein leises Fluchen – und folgte ihm.
Meine Anspannung stieg von Sekunde zu Sekunde. Der Treppe, die wir hinuntergingen, folgte das Durchschreiten eines Raumes, der wie ein kleines Amphitheater aussah, mit einer kreisrunden Fläche in der Mitte und seitlich aufstrebenden Treppen und Bänken aus weiß lackiertem Holz. Der Dielenboden knarrte, als wir darübergingen, als trüge er eigenes Leben in sich. Es folgten weitere Gänge, gespickt mit gläsernen Vitrinen, deren ausgestellter Inhalt mir Rätsel aufgab. Hier und da erhaschte ich einen Blick auf die Beschriftungen neben den Türen, doch auch das trug nicht dazu bei, meine Nervosität zu verringern. »Schattenkabinett« , las ich auf einem Schild, »Pyromanisch-technische Abteilung« auf einem anderen, gefolgt vom »Mentalanatomischen Laboratorium« . Fast war ich erleichtert, dass es auch ganz normal wirkende Räume mit altertümlichen Aufschriften wie »Kontor« oder »Fechtsaal« gab. Auch wenn ich mit Fechten absolut nichts am Hut hatte …
Von einem großen Saal, der einer Aula ähnelte, führte schließlich eine Tür zu einer schmalen Wendeltreppe, die sich immer weiter und weiter in die Tiefen des Gebäudes hineinzuschrauben schien. Wir mussten uns längst unter der Erdoberfläche befinden. Schließlich endeten die Stufen und ich erblickte einen hell erleuchteten Gang. Das Licht war fahl, unangenehm und passte nicht so recht zu der Dämmerung, die ich sonst überall im Haus erlebt hatte.
Gunnar Thiel trat auf eine Tür zu und klopfte höflich an.
»Ja?«
Nur Sekunden später wurde die Tür aufgestoßen. Vor uns stand ein junger Mann, ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Er hatte dichte rotblonde Haare, die akkurat geschnitten waren, ein blasses Gesicht und trug einen weißen Kittel über einem schwarzen Anzug mit Weste, was ihm ein seltsam förmliches Aussehen verlieh.
Ein Arzt? Bei dem Anzug könnte er auch ein Bestatter sein …
Mir wurde schlagartig übel.
Wir befanden uns
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