Ruf der Drachen (German Edition)
Gegenüber zuckte kurz zusammen, dann seufzte er leise. »Vorsicht, bitte. Sie könnten sich verletzen. Wäre schade.«
»Passen Sie besser auf, dass ich Sie nicht verletze!«, brüllte ich. »Was ist denn hier los? Sind denn alle verrückt geworden?«
Das schien Eindruck zu machen, denn er musterte mich kurz prüfend und ging dann zu einem Telefon. Innerhalb von Sekunden stand die Verbindung.
»Es gibt ein Problem«, hörte ich ihn sagen. »Er steht mit einer Schere in der Hand vor mir und will mich abmurksen.«
Er bekam eine Antwort, doch seine Miene blieb undurchsichtig.
Schließlich nickte er. »In Ordnung.«
Ich hielt den Atem an, als er auflegte und sich zu mir umdrehte.
Dann huschte der Hauch eines Lächelns über sein blasses Gesicht.
»Tee?«
Fassungslos beobachtete ich, wie er zu der kleinen Küchenzeile in einer Ecke des Raumes hinüberging und einen Wasserkocher auf eine Herdplatte stellte.
»Bei einer guten Tasse Tee lässt es sich viel angenehmer plaudern.«
Ich rührte mich nicht und umklammerte noch immer mit fester Hand die Schere.
Der Mann brühte schwarzen Tee auf, gab Milch hinzu und schob mir schließlich eine Tasse hin.
»Setzen Sie sich. Wir reden.«
Als ich misstrauisch abwartend stehen blieb, seufzte er.
»Wirklich. Nur reden. Sie wollen wissen, was los ist? Also bitte.«
Noch immer wachsam kam ich seiner Aufforderung nach, ließ mich auf den Stuhl sinken und zog mit der linken Hand die Tasse zu mir heran. Mit der rechten umklammerte ich weiterhin den Griff der Schere.
Mein Gegenüber nahm formvollendet einen Schluck aus seiner Teetasse und lehnte sich dann auf dem Stuhl zurück. »Zunächst einmal: Mein Name ist James Reilly, aber alle hier nennen mich Hades. Ich bin der Assistent des Rechtsmediziners. Der Chef ist gerade im Urlaub, deshalb haben wir beide das Vergnügen.«
»Hades? Vertrauenserweckend«, presste ich hervor.
James Reilly lachte leise.
»Man kann machen, was man will, Spitznamen wird man nicht mehr los.«
»Und kein Engländer?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ire.« Sein Blick wurde forsch. »Das ist ein großer Unterschied.«
Ich nickte stumm. Der Wechsel zwischen absolut kühler Arbeitshaltung und freundlichem Entgegenkommen war so abrupt eingetreten, dass ich der Situation keinen Millimeter über den Weg traute. In meinem Kopf überschlugen sich die Fragen, doch ich war geistesgegenwärtig genug, zumindest die Schere, die einzige Waffe, die ich notfalls zu meiner Verteidigung nutzen konnte, fest in der Hand zu behalten.
»Wieso Rechtsmedizin?«, hakte ich nach. »Das hier ist weder eine Klinik noch eine Polizeistation.«
»Richtig«, erwiderte Hades gelassen. »Und ganz ehrlich, Sie sprechen da etwas an, was ich mich auch schon länger frage … Wir beschäftigen uns nur noch mit überflüssigem, langweiligem Kram. Richtige Leichen gab’s hier schon lange nicht mehr.« Er seufzte leise. »Wenn Sie wüssten, wie schön das ist: Man schneidet jemanden auf und im besten Fall beantwortet er alle Fragen, die man hat. Und ist dabei trotzdem so angenehm still. Ich mag es nicht, wenn Leute zu viel reden. Kennen Sie das?«
Ich starrte ihn an. War das ein Witz oder meinte er das ernst? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand wirklich gerne Leichen zerteilte! Zumindest niemand, der noch alle Sinne beisammen hatte …
»Sie schneiden hier also Menschen auf, ja?«
»Eben nicht, das ist es ja!« Hades seufzte. »Der Laden ist völlig veraltet, wir bräuchten dringend neues Equipment. Dann würden wir mit Sicherheit auch wieder Aufträge bekommen, aber so …« Er machte eine wegwischende Handbewegung. »Na ja, so dümpeln wir eben vor uns hin und untersuchen in Ermangelung besserer Arbeit Präparate von anno dazumal mit antiquierten Mikroskopen. Das macht keinen Spaß, sorgt aber wenigstens für Ordnung im Archiv.«
Er deutete auf einen Tisch, auf dem sich Unmengen von gräulich-braunen Schichtpräparaten unter kleinen Glasplättchen stapelten. Ich wagte nicht, näher nachzufragen, um was genau es sich handelte.
»Und Sie arbeiten hier fest, ja?«, fragte ich stattdessen.
Hades lachte leise. »Nein, ich studiere noch. Allerdings dürfte ich bald fertig sein. Vorausgesetzt, die Medizinische Fakultät zwingt uns Studenten nicht erneut zu Streiks. Und dann mal sehen, wo ich lande.«
Ich nickte stumm und starrte auf die Verbandsschere in meiner Hand. Es kam mir im Laufe dieses Gespräches immer absurder vor, mich an ihr festzuhalten, doch irgendwie
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