Ruf der Drachen (German Edition)
ihre Westentasche. Ich hatte schon nach wenigen Minuten keinen Zweifel mehr daran, dass sie seit frühester Kindheit hier ein und aus ging und wahrscheinlich von Gängen und Schleichwegen wusste, die nicht einmal ihrem Vater bisher untergekommen waren.
»Das Gebäude ist sehr alt«, erklärte sie mir, während sie mich durch ein System verwinkelter Flure führte. »Und in den vielen Jahren seit der Akademiegründung gab es unzählige Umbauten und Erweiterungen. Was du hier siehst, ist nur ein Bruchteil dessen, was sich im gesamten Komplex befindet.« Sie rollte mit den Augen. »Mein Vater wünscht sich einen Neubau, aber dafür fehlt das Geld. Außerdem beißt er sich mit dieser Idee die Zähne an den Gremien aus. Ein Haufen Leute hier ist sehr traditionell. Die hängen an dem alten Kasten.«
»Und du?«, fragte ich neugierig. »Wie siehst du das?«
Mirella zuckte mit den Schultern und lachte.
»Es wäre schade um die ganzen Geheimgänge. Bei einem Neubau wäre es viel schwerer, den Argusaugen meines Vaters zu entgehen. Also bin ich für einen Erhalt des alten Teils. Und einen modernen Anbau. Irgendwas mit viel Glas und Licht, hier ist nämlich immer alles so furchtbar dunkel. Aber das wird so schnell wohl nicht passieren …«
»Woher bezieht die Akademie ihre Gelder?«, fragte ich neugierig nach.
Mirella wandte sich zu mir um und ging dabei rückwärts weiter.
»Spenden. Die akademieeigene Schule erhält sich selbst.«
Ich hob die Brauen. »Klingt unwahrscheinlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Spenden all das hier tragen.«
Mirella lachte klingend auf. »Du unterschätzt die Positionen, die Leute mit Akademieausbildung in der Welt bekleiden. Aber es gibt natürlich auch noch die alte Geschichte von dem Reichtum der Akademiegründer, von dem wir bis heute zehren. Das ist nicht mehr als ein Märchen, wenn du mich fragst. Gold und Kronjuwelen sucht man hier vergebens. Ich zumindest habe sie noch nicht gefunden. Und ich kenne jeden Winkel in diesem Schuppen.«
Sie drehte sich wieder um und verlangsamte ihre Schritte.
»Wir kommen jetzt in den ältesten Teil des Gebäudes. Hier liegt das Archiv.«
Ich blickte mich unruhig um.
»Müssen wir nicht vorsichtig sein?«
»Um diese Zeit ist niemand mehr hier«, entgegnete Mirella gelassen. »Früher soll das anders gewesen sein, da hatte die Akademie viel mehr Mitglieder. Heute sind es nur noch eine Handvoll Leute und einige wenige Schüler im Ausbildungsprogramm. Sind nicht die besten Zeiten. Aber Paps sagt, das ändert sich auch wieder. Berlin ist einfach ein schlechter Standort im Moment. Du weißt schon, Kalter Krieg und so. Eher abschreckend.«
»Aber du gehst hier zur Schule, oder?«, fragte ich weiter.
Mirella blickte mich an, als wäre ich minderbemittelt.
»Wie bitte? Nein. Ich bin auf einer ganz normalen Schule. Die Akademie nimmt nur Anwärter an, die mindestens zwanzig Jahre alt sind. Und bereits einen Schulabschluss haben. Aber ich werde auch später ganz sicher nicht hier anfangen, soviel ist klar.«
»Warum nicht?«, wunderte ich mich.
Mirella atmete tief durch. »Ich will Medizin studieren. Das hier ist ein Irrenhaus. Und ich bin weg, sobald ich kann.«
»Deinem Vater wird das nicht gefallen.«
»Mir gefällt auch vieles nicht, was mein Vater tut«, entgegnete sie erstaunlich kühl. »Und? Kümmert ihn das?«
»Wohl eher nicht.«
»Na also.«
Sie blieb stehen und deutet auf eine große Tür am Ende des Ganges.
»Dort drüben ist das Archiv. Viel Spaß!«
Damit wollte sie sich umdrehen und gehen, doch ich packte sie geistesgegenwärtig am Arm. »Moment, du bleibst nicht hier?«
»Soll ich denn?«, entgegnete sie. »Du hast doch wohl keine Angst so ganz alleine?«
Ich sah den leicht spöttischen Zug um ihren Mund und straffte mich.
»Nein, Angst habe ich nicht. Aber ich denke, dass du im Archiv sicher viel schneller findest, was ich suche. Schließlich kennst du dich hier aus.«
Mirella grinste.
»Ich bin nicht gerade ein Fan von Archiven. Was kriege ich dafür?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Such dir was aus.«
Ihr Grinsen wurde breiter und mit Unbehagen merkte ich, dass das Funkeln in ihren Augen sich verstärkte.
»Egal, was? Bist du dir sicher?«
Ich riss mich von ihrem Blick los und steuerte auf die Archivtür zu.
»Nichts, was nicht jugendfrei wäre. Da sind wir uns einig, oder?«
»Wenn du das sagst«, flötete Mirella und folgte mir leichtfüßig. Ich spürte ihren Blick als leicht irritierendes
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