Ruf der Drachen (German Edition)
diesem Bild auf sich?«
Mirella beugte sich vor und ich deutete auf das Gemälde. Sie lächelte.
»Das sind die Symbole der Akademiegründer. Der Drache gehörte zu Tristan Georgus – was wahrscheinlich einfach nur mit seinem Nachnamen zusammenhängt, wenn du mich fragst. Im Laufe der Jahre wurde er dann immer mehr zum Symbol für die Hochsensiblen. Aber auch die anderen Gründer hatten ihre Bilder. Das Medium Constance Moulin soll durch ihre Verbindung zu einem roten Löwen alle ihre Eingebungen bekommen haben.« Mirella rollte leicht mit den Augen. »Na ja, wer’s glaubt … Ich denke, sie konnte das auch ohne dieses Löwenmärchen. Aber anscheinend war es für Frauen in dieser Zeit schick, sich mit mysteriösen Geschichten zu umgeben. Sarah Winston und ihr Phönix sind ganz ähnlich, der Vogel soll ihr die Telepathie ermöglicht haben.«
»Und was ist mit dem Saturn?«, fragte ich, als Mirella verstummte.
Sie zögerte kurz.
»Matteo Biasini. Er ist der einzige der Gründer, bei dem sich nicht nachvollziehen lässt, was er wirklich wollte.«
»Der Energetiker«, murmelte ich.
Mirella lächelte erneut.
»Du lernst schnell. Willkommen im Fach Akademiegeschichte . Ja, Biasini war der Energetiker. Und er soll die Gabe gehabt haben, jederzeit eine Sonnenfinsternis einleiten zu können und generell die Himmelskörper zu beeinflussen. Ich frage mich, wozu das gut gewesen sein soll, aber darum ging es wahrscheinlich nicht. Biasini hat sich gerne mit den etwas dunkleren Facetten umgeben. Vorsichtig ausgedrückt … Er hatte offensichtlich einige Seiten an sich, die man schwer fassen konnte. Wie die Ringe des Saturn. Vielschichtig.«
Ich lachte heiser auf. »Willst du damit andeuteten, er hat Schwarze Magie betrieben?«
Mirella setzte sich auf. Ihr Gesicht war so ernst, dass ich schlucken musste.
»Das ist nichts, worüber man lachen sollte. Wissenschaftliche Erklärung hin oder her.« Sie senkte die Stimme und blickte mich durchdringend an. »Wer weiß, was hier noch alles an Entdeckungen auf dich wartet …«
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus. Plötzlich wirkte das alte Archiv, als würden Schatten in den Ecken lauern und jedes unserer Worte genau verfolgen.
In diesem Moment lachte Mirella laut auf. »Meine Güte, du bist wirklich leicht zu erschrecken, oder? Daran solltest du arbeiten. Sonst hältst du hier keine drei Tage durch.«
Ich schnaubte leise und musste mich sehr bemühen, meine Erleichterung nicht zu deutlich zu zeigen. Dann stimmte ich in Mirellas Lachen ein.
»Stimmt, ich bin ein Schisser. Manchmal …«
»Ist in Ordnung. Ich passe auf dich auf«, entgegnete Mirella mit betont cooler Miene.
»Na, da bin ich beruhigt.«
Ich deutete auf das Foto im Buch.
»Weißt du, wann das Bild aufgenommen wurde?«
Mirella zuckte mit den Schultern.
»Muss irgendwann zwischen 1913 und 1917 gewesen sein. Danach war Delius im Krieg. Und aus dem ist er nicht zurückgekommen. Er starb kurz vor Ende der Kämpfe.«
Ich musterte das Gesicht des Mannes. Der träumerische Blick schien nicht recht zu dem energisch wirkenden Kinn und der straff aufgerichteten Haltung zu passen.
»Als hätte er zwei Seelen in sich«, sagte ich leise. »Merkwürdig zerrissen.«
Mirella lachte leise. »Interessant, dass gerade dir das auffällt. Aber es wundert mich nicht.«
Ich hob die Brauen. »Warum?«
»Weil Alban Delius genau wie du ein Hochsensibler war. Auf der Suche nach Gleichgesinnten hat er die Wasserspeier und ihr geheimes Rhythmussystem erfunden. Er war Orgelbaugeselle und für ihn war es leicht, an die entsprechenden Materialien zu kommen. Dann hat er die Drachen überall in Berlin aufgestellt, um Menschen zu finden, die ihm ähneln.« Mirella blickte auf und mir direkt in die Augen. »Menschen wie dich.«
Ich musterte sie prüfend. »Hat dein Vater dir von mir erzählt?«
Mirella schüttelte den Kopf. »Nein, das würde er niemals tun. Man kann Paps viel vorwerfen, aber er schweigt wie ein Grab.« Sie runzelte die Stirn. »Genau genommen, kann man ihm vor allem das vorwerfen, wenn man seine Tochter ist …« Sie machte eine wegwischende Handbewegung. »Egal. Er hat mir nichts erzählt. Das war auch gar nicht nötig.«
»Weil du es selbst gemerkt hast …«, mutmaßte ich, ohne sie aus den Augen zu lassen. Und zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, ob auch Mirella eine besondere Fähigkeit hatte. Irgendetwas, was sie auszeichnete und von anderen Menschen abhob. Vererbten sich sensible
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