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Ruf der Drachen (German Edition)

Ruf der Drachen (German Edition)

Titel: Ruf der Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yalda Lewin
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Wahrnehmungen? Wurden paranormale Talente weitergegeben? Bisher hatte ich nie darüber nachgedacht. In meiner Familie fiel mir auch niemand ein, der diese Begabung an mich hätte weitergeben können. Bis auf meine Großmutter, die ich nie kennengelernt hatte. Sie musste eine beeindruckende Frau gewesen sein – aber das war eine andere, eine traurige Geschichte.
    Ich wischte den Gedanken fort.
    Mirella blickte mich aus ihren klaren grauen Augen an. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass sie genau merkte, was in mir vorging. Und es einfach so akzeptierte.
    »Es gehört nicht viel dazu, es zu merken«, sagte sie ruhig. »Bei dir ist es sehr deutlich. Da gibt es schwierigere Fälle.«
    »Was ist deine Begabung?«, fragte ich – und bereute es sofort.
    Ein Schatten fiel über Mirellas hübsches Gesicht und sie erhob sich mit einem Ruck. »Ich habe keine. Und ich glaube auch nicht, dass dich das etwas angeht.«
    »Entschuldige!«, sagte ich hastig. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
    Mirella stemmte die Hände in die Hüften und hob trotzig das Kinn. Es dauerte einige Sekunden, dann wurden ihre Gesichtszüge wieder weicher.
    »Ich rede nicht gerne darüber. In Ordnung?« Sie ließ sich wieder in den Sessel fallen und kreuzte die Beine zum Schneidersitz.
    Ich nickte bedächtig und verkniff mir weitere Fragen. Aber eines war klar: Mirella war nicht nur die widerspenstige Tochter des Akademieleiters. Sie war intelligent, witzig, schlagfertig. Und sie verbarg ein Geheimnis, das mich nicht zu interessieren hatte. Im Moment.
    Ich richtete den Blick wieder auf das Buch in meinem Schoß.
    »Weißt du, ob Alban Delius auch Botschaften hinterlassen hat?«, fragte ich dann.
    Mirella nickte. »Ja, das hat er. Wie sonst hätte man denn die anderen Wasserspeier finden sollen? Berlin ist riesig.«
    Ich unterdrückte ein Seufzen. Ja, das Problem war mir vertraut.
    Doch eine Frage stand noch aus und ich merkte, wie allein beim Gedanken daran mein Herz schneller zu schlagen begann.
    »Und der Rhythmus der Wasserspeier?«
    Mirella drehte eine Locke zwischen Daumen und Zeigefinger. »Simpel. Steht auch da im Buch. Delius hat die Speier ein Weihnachtslied pusten lassen.«
    Ich zuckte zusammen. »Ein Weihnachtslied?«
    »Ja. Nicht besonders kreativ, oder?« Sie lehnte sich zurück. »Allerdings weiß ich schon, worauf du hinauswillst. Ein Weihnachtslied war es am Anfang. Später wurden die Rhythmen geändert.«
    Gespannt beugte ich mich vor.
    »Genau das interessiert mich! Welches Lied ist es? Und warum hat er die Rhythmen geändert? Was wollte er damit sagen?«
    Mirella schnappte sich das Buch und blätterte zwei Seiten weiter. »Da steht es!«
    Ich beugte mich über den Text und merkte, wie meine Kehle trocken wurde, während ich die eng beschriebenen Zeilen überflog.
    »Alban Delius nutzte die Wasserspeier ein letztes Mal im Jahr 1918 während eines Fronturlaubes. Wie wir aus Briefen an seinen Akademiefreund Christian Karl wissen, wurde Delius schon zu Beginn des Jahres 1918 von Visionen heimgesucht. Seither warnte er vor einer Revolution, die nach seiner Auffassung alles zerstören würde, was bisher bestand. Als Datum dieser Revolution war ihm der 9. November eingegeben worden. Er nutzte die Wasserspeier, um die Warnung unter die Menschen zu bringen.
    Alban Delius starb 1918 in einem Gefecht an der französischen Frontlinie. Das Eintreten seiner Vision – genauer gesagt, die Novemberrevolution und die Ausrufung der Republik am 9. November 1918 – erlebte er nicht mehr.«
    Ich ließ enttäuscht das Buch sinken.
    »Die Novemberrevolution?«
    Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
    Mirella nickte. »Klar. Was hast du denn gedacht? Übrigens – wenn es dich interessiert, dann nimm das Buch mit. Es ist wirklich sehr gut, darin finden sich viele Dokumente aus der Akademiegeschichte. Irgendwo müsste da auch der letzte Brief von Delius abgedruckt sein.«
    Ich blätterte weiter. Und tatsächlich – da war er. Der Brief von Alban Delius an Christian Karl.
    20. Juli 1918
    Werter Freund,
    müßig zu berichten, wie bedrückend die Tage sind. Die Schützengräben, die Hitze, Regen, Schlamm. Eine Grippewelle rafft viele dahin. Es ist, als würde man auf seinen eigenen Tod warten. Niemand darf sich rühren, niemand sprechen. Jeder für sich allein, zurückgeworfen auf Atmen und Warten. Du weißt, lieber Freund, wie ich die Stille liebe, weißt, dass ich Tage und Nächte mit Schweigen verbracht habe. Doch hier ist die Ruhe

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