Ruf der Drachen (German Edition)
nicht überfordert.«
»Doch, das sind Sie. Jeder wäre das in einer solchen Situation. Aber das ist doch erfreulich, oder? Sie sind also völlig normal.«
Ich schüttelte müde den Kopf.
»Klasse. Und was soll ich jetzt mit dieser Aussage anfangen?«
»Was immer Sie wollen«, entgegnete Thiel. Dann zog er einen Umschlag aus der Manteltasche. »Übrigens habe ich hier etwas für Sie. Die Ergebnisse der Tests, die James Reilly mit Ihnen durchgeführt hat. Interessiert?«
Ich runzelte unsicher die Stirn. Die Tests hatte ich vollkommen verdrängt. Wollte ich wirklich wissen, was dabei herausgekommen war?
»Ich weiß nicht recht«, murmelte ich und kämpfte das Unbehagen nieder.
»Gut, dann nehme ich Ihnen die Entscheidung ab.«
Thiel zog einige Papiere aus dem Umschlag und überflog sie mit schnellem Blick.
»Jakob Roth, geboren am 3. Juni 1968. Keinerlei Vorerkrankungen.
Positiv auffällig: ausgeprägte sensible Wahrnehmungen sowohl im visuellen als auch im akustischen und sensorischen Bereich. Paranormale Wahrnehmungen. Vielschichtige Fantasie, ausgeprägtes intuitives Denken, detailreiche Wahrnehmung der Umgebung, großes Interesse an Musik, rasches Einschwingen auf Stimmungen und Atmosphären, hoher Gerechtigkeitssinn. Erhöhte Aktivität im Thalamus nachgewiesen, zudem ein leicht erhöhter Cortisolspiegel.
Negativ auffällig: erhöhte Schmerzempfindlichkeit, Neigung zu Blockierungen durch Perfektionismus, starke Reaktionen auf Genussmittel wie Alkohol und Nikotin sowie Medikamente. Anfällig gegenüber Stress und Leistungsdruck. Die Beeinflussbarkeit durch andere Personen ist mittelmäßig ausgeprägt.
Jakob Roths Persönlichkeit wird als stabil eingestuft. Die Aufnahme in das Ausbildungsprogramm des Paranormal Arts Institute der Akademie wird daher empfohlen.«
Gunnar Thiel ließ das Blatt sinken und blickte mich an. Ich stand wie angewurzelt an meinem Platz und wusste nicht, ob ich lachen oder mich ärgern sollte. Ich hatte von Kindheit an gewusst, dass ich anders war – es aber nun so geballt in geradezu wissenschaftlicher Akribie präsentiert zu bekommen, war fast überwältigend. Ich suchte nach Worten.
»So bin ich eben«, sagte ich schließlich heiser.
»Eben«, lächelte Thiel. »Und das macht Sie zum perfekten Anwärter für unser Ausbildungsprogramm.«
Er lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und musterte mich gespannt.
»Jakob, Sie ahnen es vielleicht nicht, aber das Programm wäre wirklich wertvoll für Sie. Sie würden lernen, mit Ihren Talenten umzugehen und sie sinnvoll zu nutzen. Glauben Sie mir, das ist eine einmalige Chance – die können Sie sich nicht entgehen lassen!«
Ich starrte auf den Boden. In meinem Kopf wirbelten Tausend Gedanken durcheinander und ich sah mich außerstande, zu reagieren. In die Akademie eintreten? Was sollte dann aus meinem Studium werden?
Du hast ja eh keine Klarinette mehr , funkte ein zynisches Stimmchen zwischen die Lichtblitze der Gedanken. Ich schüttelte es ab.
»Bitte gehen Sie. Ich bin müde«, sagte ich leise und deutete zur Tür.
Thiel schwieg einen Moment, dann erhob er sich.
»Ich lasse Ihnen das hier«, sagte er und legte die Untersuchungsbefunde sorgfältig auf meinen Schreibtisch.
»Nicht nötig«, antwortete ich kühl. »Ich bin nicht interessiert. Und wenn ich das richtig mitbekommen habe, ist der Laden ohnehin am Ende, oder?«
Thiel hielt kurz inne, ließ mich aber nicht merken, ob meine Antwort ihn überraschte. Dann wiegte er bedächtig den Kopf.
»Wie man es nimmt …«
Dennoch ließ er den Brief, wo er war. Als er an mir vorbeikam, fasste ich ihn unwillkürlich am Arm und hielt ihn fest.
»Eins noch, bitte! Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Maren?«
Thiel befreite sich ruhig aus meinem Griff.
»Nein. Wir wissen nur, dass sie zuletzt mitten in der Nacht am Grenzübergang Alexanderplatz gesehen wurde. Sie hatte einen kleinen Koffer dabei, sonst nichts. Danach verliert sich ihre Spur. Ich nehme nicht an, dass wir sie ausfindig machen können.« Sein Blick wurde bohrend. »Und Sie sollten das auch nicht in Erwägung ziehen, Jakob. Vergessen Sie Maren Unger. Oder was auch immer ihr richtiger Name ist, denn nicht einmal das ist sicher. Nichts ist sicher, sobald es um Menschen im Dienste des Kalten Krieges geht.«
Ich nickte stumm.
Als unsere Blicke sich trafen, sah ich etwas in Thiels Augen aufblitzen. Eine Art Erkennen. Er straffte sich.
»Verdammt! Sie haben etwas in Marens Wohnung gefunden, oder?« In
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