Ruf der Dunkelheit
gegenüberstehen. Ich riss meinen Arm nach oben und schirmte mein Gesicht ab. Das grelle Licht brannte in meinen Augen, riesige Flammen schlugen in den schwarzen Nachthimmel und Olivias fürchterlicher Aufschrei mischte sich mit Darias hysterischem Weinen. Ich war wie gelähmt, konnte nicht glauben, was sich dort gerade vor meinen Augen abspielte. In diesem Moment vergaß ich alles um mich herum. Julian, Max, Val und Daria, die immer noch gegen Julians eiserne Umklammerung ankämpfte.
Hypnotisiert sah ich dabei zu, wie Olivia in Michaels Armen in Flammen aufging, während um die beiden Körper ein Meer aus Funken tanzte, die durch den leichten Wind zuerst in die Luft getragen wurden, wo sie dann in sämtliche Richtungen auseinanderstoben.
Noch nie war ich Zeuge von etwas so Schrecklichem, das zeitgleich so wunderschön anzusehen war. Etwas heißes, Nasses rann mir über die Wangen. Irritiert wischte ich mit dem Ärmel über das Gesicht. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich angefangen hatte zu weinen – so gefesselt starrte ich auf das bizarre Schauspiel der Flammen, bis sich Daria irgendwann doch aus Julians Armen befreit hatte, indem sie ihm ihre glühende Handfläche gegen das Gesicht drückte.
In diesem kurzen Überraschungsmoment, in dem Julian sich die Wange rieb, stob sie nach vorn, hob ihre Hände, während beide Handflächen begannen, bläulich zu schimmern. Sie breitete ihre Arme aus, schrie aus voller Kehle
„Tempestas“
und augenblicklich wuchs die leichte Brise mit einem lauten Heulen zu einem tosenden Sturm heran. Meine Knie gaben nach, so plötzlich wurde ich von einer Böe erfasst. Ich fiel nach vorne, krallte mich mit den Fingern im matschigen Boden fest und kniff die Augen zusammen. Blätter wirbelten mit einem ohrenbetäubenden Rauschen durch die Luft und als ich angestrengt den Kopf hob, sah ich, wie die Flammen zu Darias Füßen erloschen.
Im nächsten Moment sackte sie kraftlos zusammen und blieb regungslos liegen. Von der einen auf die andere Sekunde war es nahezu windstill und die aufgewühlten Blätter segelten lautlos auf die Erde herab. Schnell rappelte ich mich auf. „Julian!“, schrie ich aus vollem Hals und sah, wie der Kopf meines Gefährten ruckartig herumwirbelte. Als er mich erblickte, schwankte seine Miene zwischen Unglauben und Misstrauen. „Tamara?“ Seine Stimme war nur ein belegtes Flüstern.
„Julian!“ Atemlos kam ich vor ihm zum Stehen und sah ihm in die Augen, die mich mit einem fast geschockten Ausdruck betrachteten. „Was…?“ Sein Blick fiel ungläubig auf Ethans verkohlte Leiche, ehe er mich erneut ansah.
Da begriff ich. „Julian“ Ich trat einen Schritt auf ihn zu und nahm sein Gesicht in meine Hände. „Ich bin es wirklich!“ Mit meinem Daumen fing ich eine Träne auf, die ihm über das Gesicht rollte und wischte sie weg.
„Tamara … ich … ich dachte …“ Seine Stimme erstarb. „Ich dachte du bist … tot.“ Und dann schien er endlich zu realisieren, dass ich wahrhaftig vor ihm stand. Die unglaubliche Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er mich fest in seine Arme schloss und schluchzend sein Gesicht an meiner Schulter vergrub. „Ich … dachte … du wärst …“, presste er erneut abgehackt hervor und sein Körper bebte zwischen meinen Händen. Sanft strich ich ihm über den Rücken. „Mir geht es gut … mir geht es gut …“, wisperte ich und atmete tief seinen vertrauten, tröstenden Geruch ein, während ich mein Gesicht an seine Halsbeuge presste.
Ein verzweifelter Schrei ließ uns zusammenzucken und aufblicken. Wenige Meter weiter war Daria wieder bei Bewusstsein und hatte sich aufgerichtet. „Nein!“, schrie sie tränenüberströmt. „Michael … nein!“ Wieder und wieder. Sie kauerte vor den Überresten der Geschwister und wiegte ihren Körper vor und zurück. Max war neben sie getreten und legte seinen Arm um ihre Schulter, während er leise auf sie einredete. Valentina stand regungslos daneben und starrte wortlos auf die Asche zu ihren Füßen; das einzige, was von Olivia und Michael übrig geblieben war.
„Er … er hat sich geopfert – um uns alle zu retten“, flüsterte Julian, der mich noch immer fest im Arm hielt, so als hätte er Angst, ich würde wieder verschwinden, sobald er mich losließe. Und da dämmerte mir, dass Olivia es war, die mich in die brennende Ruine gesperrt hatte. Es hätte mir eigentlich schon klar sein müssen, als Ethan vor meinen Augen in Flammen aufgegangen war –
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