Ruf der Dunkelheit
was dann geschah, konnte ich mich nur noch vage erinnern. Julians Arme zogen und zerrten an mir. Die verschwommenen Bilder von unzähligen Gräbern zogen an meine Augen vorbei und außer dem Rauschen meines Blutes drangen alle anderen Geräusche nur leise und verzerrt an meine Ohren. Ich erinnerte mich an den Geruch von Leder, einem sanften Schaukeln, gepaart mit einem dröhnenden Motorengeräusch, ehe mir fürchterlich kalt wurde und ich in eine Art Dämmerschlaf verfiel.
Kapitel 19: Tamara - Neubeginn
Ich versuchte den Kopf wegzudrehen und knurrte unwillig, als sich etwas kaltes Hartes fast schmerzhaft gegen meine Lippen presste. Doch um den Arm zu heben und es abzuwehren, fehlte mir die Kraft. Ich schaffte es noch nicht einmal, meine Lider zu öffnen. Mein Körper fühlte sich an wie eine leblose Hülle, kalt und leer. Da füllte sich mein Mund plötzlich mit vertrauter Wärme, die meine Kehle hinunter rann und für ein warmes Kribbeln in meiner Magengegend sorgte. Ich konnte spüren, wie jede meiner Zellen begierig diese Wärme in sich aufsog und Leben in meine steifen Glieder zurückkehrte. Mit einem gierigen Stöhnen reckte ich mein Kinn hoch – ich wollte mehr!
Endlich schaffte ich es, zu blinzeln. Noch waren die Umrisse meiner Umgebung zu unscharf, um etwas zu erkennen. Ich wandte den Kopf, in Richtung der Lichtquelle, die auf mich schien. Der Duft von frischer Bettwäsche umgab mich, kitzelte mich in der Nase. Warme Finger schlangen sich um meinen Handrücken und als ich meinen Kopf hob, formte sich das schemenhafte Bild langsam zu einem vertrauten Anblick.
Ich konnte nicht anders, als schwach zu lächeln. „Julian.“ Zwar war meine Stimme nur ein Flüstern, doch augenblicklich beugte sich mein Gefährte zu mir herunter, hauchte mir erst einen Kuss auf die Stirn und presste dann seine Lippen auf meinen Mund. Ein erleichtertes Seufzen begleitete diesen Kuss und als er den Kopf hob und mich ansah, erwiderte er mein Lächeln. „Jag mir nie wieder so einen Schrecken ein! Verstanden?“ Ich nickte nur, während er mir über die Wange strich.
„Tut mir leid“, erwiderte ich spröde und stemmte meine Arme in die Matratze, um mich aufzusetzen. Julian half mir dabei, dann setzte er sich zu mir auf die Bettkante. Ich sah mich erstaunt um, als ich bemerkte, dass wir uns in dem Hotelzimmer befanden, das ich für kurze Zeit mit Michael bewohnt hatte.
Michael
– die Erinnerung an ihn versetzte mir einen schmerzhaften Stich.
„Wie konnte es eigentlich soweit kommen, dass du so ausgehungert warst?“ Julian betrachtete mich nachdenklich und runzelte die Stirn. „Ich meine, wenn ich zurückdenke, an die Zeit in der Hütte im Wald – du hast es kaum über den Tag geschafft …“
Ich ergriff seine Hand und blickte auf unsere verflochtenen Finger. „Ich glaube, ich bin geheilt“, erklärte ich zögernd, woraufhin Julians Brauen erstaunt nach oben schnellten. „Das musst du mir genauer erklären.“
„In dem Moment, als ich Max vor meinen Augen sterben sah, ist etwas in mir drin passiert – ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll aber … seitdem fühlt es sich anders an … das schwelende Feuer in meinen Adern – es ist … weg.“
„Aber … aber das ist doch toll!“ Julian drückte meine Hand und ich konnte hören, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. „Ich hatte solche Angst, dass du eines Tages die Kontrolle verlierst – aber jetzt …“ Schwungvoll lehnte er sich nach vorne und schlang fest seine Arme um mich, während er mir einen Kuss auf die Nasenspitze gab. „Ich bin so froh …“, flüsterte er und küsste mich gleich noch mal.
„Glaub mir, ich auch …“, erwiderte ich und grub meine Finger in seinem Haar, als er seinen Kopf an meine Schulter lehnte. Ich schloss die Augen und saugte diesen Moment mit jeder Facette in mir auf. Nach all den Sorgen, der Todesangst und der Ungewissheit schien zum ersten Mal seit langem wieder so etwas wie Ruhe einzukehren. Es gab ein paar Momente, in denen ich geglaubt hatte, dass ich Julian nie wieder im Arm halten würde. Umso mehr durchströmte mich dieses wunderbare Gefühl von Glück, zu wissen, dass es jetzt vorbei war.
Julian richtete sich auf und wandte den Kopf, als sich die Tür zu unserem Zimmer langsam öffnete. Max stand auf der Schwelle und blickte an Julian vorbei, zu mir. Seine Mundwinkel zuckten und ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Es geht ihr anscheinend wieder gut.“ Max wandte den Kopf halb um,
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