Ruf der Sehnsucht
Lippen noch geschwollen von seinen Küssen – und plötzlich erkannte er, dass das Mädchen von einst dem Vergleich mit der Frau, die daraus geworden war, nicht standhalten konnte.
Er hatte sich in das Mädchen verliebt, aber die Frau zog ihn ebenso an, wie sie ihn verwirrte.
»Möchtest du hereinkommen?« Sie trat beiseite und schaute ihn fragend an, und ihm wurde bewusst, dass er wie ein Idiot wirken musste, wie er da stand und sie schweigend anstarrte.
Er schüttelte den Kopf.
Sie musterte ihn ernst. Als junges Mädchen war sie ungebärdig gewesen – als erwachsene Frau war sie die Verkörperung der Beherrschung. Oder war es Kälte? Immerhin hatte sie ihr neugeborenes Kind im Stich gelassen.
»Hast du über mein Angebot nachgedacht?«, hörte er sich fragen. Das waren nicht die Worte, die zu sagen er sich vorgenommen hatte.
»Ja, das habe ich.«
Er zog eine Braue hoch.
Sie zuckte mit den Schultern, eine Geste, die er von Margaret kannte. »Ich denke, es wäre dumm, es auszuschlagen.«
Die zweite Braue gesellte sich zur ersten. »Das klingt nicht gerade begeistert.«
Sie lächelte. Er hatte vergessen, wie zauberhaft ihr Lächeln war. »Aber ich bin es.«
Er nickte. »Gut.« Damit machte er kehrt und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Er spürte Jeannes Blick wie eine Berührung auf seinem Rücken.
Das Zimmer neben Margarets bewohnte derzeit das Kindermädchen. Jetzt konnte Jeanne dort einziehen. Er hatte zu ihr gesagt, er hätte bisher keine Gouvernante eingestellt, weil er seine Tochter nicht von einem fremden Menschen unterrichten lassen wolle – aber jetzt wurde ihm klar, dass er sich davor gescheut hatte, weil es bedeutete, dass seine Tochter nicht mehr allein auf ihn angewiesen wäre.
Welche Ironie, dass er ausgerechnet ihre Mutter engagiert hatte.
»Ich liebe das Meer, Tante Mary.« Margaret schaute über die Reling aufs Wasser. Die Strömung war stark, aber keinerlei Problem für das neueste Schiff der MacRae-Flotte. Nicht einmal vor Anker liegend. »Es sieht immer anders aus, je nach Tageszeit.«
»Du solltest das Meer vor der italienischen Küste sehen oder vor der spanischen. Dort wechselt es innerhalb von Stunden die Farbe von Grün zu Blau und wieder zu Grün.«
»Werde ich das Meer jemals wiedersehen? Ich meine, jetzt, da ich groß bin?« Sie schaute ihre Tante an. »Ich möchte es so sehr, aber immer, wenn ich Vater frage, schüttelt er den Kopf. Ist es, weil ich ein Mädchen bin?«
Mary überlegte, wie sie dem Kind erklären sollte, dass die Ablehnung ihres Vaters sich nicht auf ihr Geschlecht bezog, sondern auf die Frage selbst. Margaret war intelligent und voller Energie und hatte Abenteuerlust im Blut. Ähnlich wie ihre Mutter, wenn man Douglas’ Schilderung glauben konnte. Mary hatte den Eindruck gewonnen, dass es keine Frau mit dieser Jeanne aufnehmen könnte. Vielleicht war das ja gut.
»Wenn er dich nicht mitnimmt, dann tun Hamish und ich es«, sagte sie, erkannte jedoch schon, bevor sie zu Ende gesprochen hatte, dass das ein ziemlich kühnes Versprechen war.
»Wirklich?«
Es half nichts – jetzt musste sie dabeibleiben. »Wirklich.«
Der Tag war so schön, wie nur ein Tag in den Highlands sein konnte – mit einem tiefblauen Himmel und einer so strahlenden Sonne, als lächle Gott persönlich auf Schottland herab. Die frische Brise von Norden kräuselte das Wasser des Firth, gab einen Hinweis darauf, wie sich ein Meer unter dem Rumpf der
Ian MacRae
anfühlen würde.
Die MacRae-Schiffe hatten bis auf zwei Namen von Frauen aus dem Clan – bis auf dieses, das den des Patriarchen trug, und das alte Flaggschiff, die
Ionis
. Ian hätte sich wahrscheinlich über die Ironie amüsiert, da er nicht viel für die Seefahrt übrighatte. Vor sieben Jahren war die
Ionis
, die ihn und Leitis von Schottland nach Nova Scotia zurückbringen sollte, in einem schweren Sturm auf See geblieben. Das neueste Schiff der MacRae-Werft war in einer wehmütigen Zeremonie getauft worden, die Mary und Hamish vom Firth aus verfolgt hatten.
Trotz Hamishs Überzeugungsversuchen, dass die in Schottland lebenden Familienmitglieder durch sie nicht in Schwierigkeiten geraten würden, hatte Mary seit zehn Jahren keinen Fuß auf heimatlichen Boden gesetzt. Stattdessen waren sie und ihr Mann um die Welt gesegelt, hatten das MacRae-Handelsimperium erweitert, verschiedene Häfen erforscht und alle möglichen medizinischen Behandlungsmethoden und Medikamente kennengelernt.
Mary war früher
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