Ruf der Sehnsucht
Alter ihrer Schönheit nichts anhaben konnte, ihr sogar noch einen zusätzlichen Reiz verlieh wie Patina einem Schmuckstück.
»Er wollte, dass ich es töte.«
Jeanne hörte auf zu essen, legte langsam den Löffel neben die Schale.
»Er befahl mir, das Kind zu holen und zu töten.«
Übelkeit stieg in Jeanne hoch, so stark, dass sie einen Moment lang glaubte, sich übergeben zu müssen.
»›Drück ihr ein Kissen aufs Gesicht, bis sie nicht mehr atmet, Justine‹, sagte er.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich habe es nicht getan. Ich töte kein Kind, nicht einmal Eurem Vater zuliebe.«
Für einen Moment blieb Jeannes Herz stehen, und dann begann es so schnell zu klopfen, als müsste es die versäumten Schläge nachholen. »Was ist aus ihr geworden?«, brachte sie mühsam hervor. Tief drinnen in ihr fing ein Hoffnungsglöckchen an zu läuten, zuerst zaghaft, dann zunehmend lauter.
»Ein armes, altes Ehepaar fand sich für Geld bereit, sie zu sich zu nehmen.«
»Warum habt Ihr mich das nicht wissen lassen?«
»Weil Ihr jung und töricht wart und zu befürchten stand, dass Ihr wieder etwas Unbedachtes tätet. Euer Vater hätte mir nie verziehen, wenn Ihr dem Namen du Marchand durch meine Schuld noch einmal Schande gemacht hättet.«
»Wo ist sie?«, wollte Jeanne wissen.
Zu ihrer Überraschung las sie eine Mischung aus Freundlichkeit und Mitleid in den braunen Augen ihres Gegenübers. Wie war das mit der Unbarmherzigkeit zu vereinbaren, die sie von dieser Frau erfahren hatte?
»Das spielt keine Rolle mehr, Jeanne«, antwortete Justine leise.
Nur fünf Worte, aber sie ließen das Glöckchen in Jeanne abrupt verstummen.
»Was tatet Ihr, als Ihr in Vallans ankamt?«, drang eine Stimme in ihre Erinnerungen.
Jeanne brauchte einen Moment, um sich zu fassen, aber das würde Douglas, wenn er ihre Antwort hörte, hoffentlich als ein Zeichen der Erschütterung deuten. »Nichts«, sagte sie tonlos. »Das Schloss war bis auf die Grundmauern niedergebrannt.« Der Anblick der rußgeschwärzten Ruinen verfolgte sie noch immer bis in ihre Träume. Als sie dort stand, hatte sie sich gefühlt, als wäre sie ein Teil dieses Bildes des Entsetzens, ebenso zerstört wie das prachtvolle Château.
»Warum seid Ihr überhaupt zurückgegangen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es war ganz selbstverständlich für mich.«
»Danach habt Ihr Frankreich direkt verlassen?«
Sie nickte.
»Habt Ihr Verwandte hier in Schottland?« Er klang nicht wirklich interessiert, eher so, als zitiere er aus einem Konversationsleitfaden für den höflichen Gastgeber: Rede übers Wetter, frage nach Verwandten.
»Ich habe nirgends mehr Verwandte«, antwortete sie ebenso distanziert.
Es war erstaunlich, wie es ihnen gelang, so zu tun, als hätten sie nie ihre geheimsten Gedanken und ihre Pläne für die Zukunft ausgetauscht. Wie unbekümmert sie damals gewesen waren, überzeugt, dass das Leben wie ein leeres Buch vor ihnen lag, bereit, mit schönen Erinnerungen gefüllt zu werden. In Wahrheit hatte es für sie in den vergangenen zehn Jahren darin bestanden, einfach nur einen Tag nach dem anderen zu überstehen, und ihre Zukunft schien nichts anderes für sie bereitzuhalten.
Zwei weitere Gänge wurden aufgetragen, aber Jeanne aß, ohne etwas zu schmecken, woran jedoch nicht die Köchin schuld war, sondern der Mann am Tisch. Etwa eine Viertelstunde lang wechselten sie kein einziges Wort, aber die Luft im Raum knisterte von all dem Ungesagten zwischen ihnen.
»Warum dann Schottland?«, fragte er, als hätte es die Pause nicht gegeben.
»Ich wollte zu meiner Tante, doch wie ich hier erfuhr, war sie ein Jahr zuvor gestorben. Da ich ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen brauchte, wählte ich den üblichen Weg, mir eine Anstellung zu suchen.«
»Ihr hättet auch heiraten können.«
»Heiraten?«
»Warum nicht? Das ist doch eine beliebte Lösung für Existenzprobleme von Frauen.«
»Das mag sein, aber für mich kam sie nicht in Frage.«
Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, die Jeanne Unbehagen bereitete – jetzt wäre ihr sogar das Schweigen, das sie vorhin als belastend empfunden hatte, lieber gewesen.
»Ich habe keinen Mann kennengelernt, der die für eine Heirat notwendigen Gefühle in mir weckte.« Das war nicht gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit.
Kein Mann könnte diese Gefühle in mir wecken – mein Herz wird nie einem anderen gehören als dir.
»Ihr haltet Liebe für wichtig? Ich dachte, andere Dinge wären
Weitere Kostenlose Bücher