Ruf der Sehnsucht
auch vom Reichtum des Hausherrn. Die Wände waren mit plissierter, gemusterter Seide verhängt, die Glasprismen des Lüsters über dem Tisch funkelten im Licht seiner Kerzen. Schlanke, gelbe Bienenwachskerzen brannten in silbernen Leuchtern auf den langen, rechteckigen Konsoltischen an den Längsseiten des Zimmers.
Douglas MacRaes Heim war eine Augenweide. Die Schätze, die er zusammengetragen hatte, mussten ein Vermögen wert sein, doch Jeanne hatte gelernt, dass ein guter Charakter bei einem Mann sehr viel wichtiger war als Reichtum.
»Ich freue mich, dass Ihr Euch entschieden habt, mir Gesellschaft zu leisten«, sagte er und entließ Lassiter mit einem Nicken. Der Majordomus sah sie beide von der Tür her zweifelnd an, und Jeanne hätte ihm gern versichert, dass sie seinem Herrn nichts antun würde, was solche Besorgnis rechtfertigte.
»Nun, ich muss essen«, antwortete sie abweisend.
»Meine Köchin ist ein wahres Juwel«, überging er ihr rüdes Benehmen. »Ich bin überzeugt, es wird Euch schmecken. Hattet Ihr einen angenehmen Tag?«
»Einen ruhigen.«
»Ich hoffe doch, das Personal hat es Euch an nichts fehlen lassen.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Alle waren ungemein höflich.«
So wie sie beide im Moment. Aber jedem, der den Raum betreten hätte, wäre die Spannung zwischen ihnen aufgefallen.
Jeanne nippte an ihrem Wein.
»Ein guter Tropfen«, sagte er, »mit einem leichten Eichenton im Abgang.«
Sie nickte und fragte sich, ob er sich wohl an einige ihrer damaligen Gespräche erinnerte. Auf Vallans war auch Wein angebaut worden, und sie hatte sich brennend für die Herstellung interessiert. Eines Tages hatte sie ihren Vater auf das Thema angesprochen und ihm einige Änderungsvorschläge unterbreitet. Er hatte sie ernsthaft ermahnt – die Tochter des Comte du Marchand hatte sich nicht einmal in Gedanken mit der Weinherstellung zu befassen, so alt und ehrwürdig die Tradition auch war.
Falls Douglas sich erinnerte, so erwähnte er es nicht. Und nichts in seinem Verhalten deutete darauf hin, dass sie mehr als Bekannte waren. Aber sie wusste, wie seine Schultern unter dem eleganten Rock und dem feinen Hemd aussahen. Sie wusste, dass seine Brust drei Spannweiten ihrer Hände breit war. Sie wusste, dass er erschauderte, wenn sie seine Erektion liebkoste, und stöhnte, wenn die Lust ihn überwältigte.
Sinnend blickte Jeanne in ihr Glas. Sie wusste, dass sie in der vergangenen Nacht nicht hätte geschehen lassen dürfen, was geschehen war. Aber die Monate in Paris waren die schönsten ihres Lebens gewesen, und sie hatte neun Jahre lang dafür gebüßt. War es da denn so verwerflich, dass sie die Gelegenheit ergriffen hatte, die Vergangenheit für ein paar Stunden aufleben zu lassen?
Allerdings hatte sie es nicht wirklich unbeschwert genießen können, denn sie hatte Angst, Douglas wieder die Macht zu verleihen, sie zu verletzen. Noch größere Angst hatte sie allerdings, ihm im Überschwang der Gefühle die Tragödie ihres gemeinsamen Kindes zu offenbaren.
Nein, Tragödie war nicht das richtige Wort – es klang zu abstrakt. Wie sollte sie bezeichnen, was mit ihrem Kind geschehen war? Eine Greueltat. Oder eine unfassbare Schändlichkeit. Sie hatte immer gehofft, ihr Vater würde seine Meinung irgendwann ändern, ihr die Hand zur Versöhnung reichen. Doch er war nicht nur unbeugsam geblieben, sondern hatte sich in seinem Zorn zu unvorstellbarer Grausamkeit verstiegen.
Jeanne hob den Blick und betrachtete Douglas über den Rand ihres Glases hinweg. Er war frisch rasiert und hatte sich fürs Dinner umgekleidet. Sie hatte gebadet, ihr Haar gebürstet, bis es glänzte, und ihre Schuhe geputzt. Sie hatten beide ihr Möglichstes getan, um sich im besten Licht zu präsentieren.
Bevor sie ihr Zimmer verließ, hatte sie im Spiegel nach Bestätigungen dafür gesucht, dass seit dem glücklichen Sommer in Paris zehn Jahre vergangen waren. Was sie fand, waren ein paar Fältchen, doch die gravierendste Veränderung war der traurige Zug um ihre Augen. So sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, ihn mit einem Lächeln wegzuzaubern. Ihr Kummer war ein Teil von ihr, wie das Grau ihrer Augen und der Klang ihrer Stimme.
Douglas und sie waren einander in der letzten Nacht sehr nahe gewesen, jedoch mit keinem Wort auf ihre gemeinsame Vergangenheit eingegangen und auch nicht auf die anschließende, die sie jeder für sich erlebt hatten. Und seitdem taten sie so, als hätte es die letzte Nacht nicht
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