Ruf der Sehnsucht
Jahr weiter den Hang hinauf. Die ehemals je nach Wetter staubige oder schlammige Landstraße nach Inverness war heute gepflastert. Über hundert Menschen lebten in Gilmuir, und die meisten von ihnen arbeiteten auf der Werft.
»Du hast es doch gerade selbst gesagt – mein Unternehmen ist in Edinburgh und Leith.«
Sie schnitt eine Grimasse, wechselte dann jedoch das Thema. »Ich möchte auch einmal im Winter hierherkommen, Papa. Robbie hat erzählt, dass dann Eiszapfen an den Bäumen hängen und der Wald wie verzaubert aussieht. Darf ich, Papa? Bitte, bitte.«
»Es ist bitterkalt und der Wind scharf wie ein Messer«, warnte er aus eigener Erfahrung.
»Das macht nichts. Die Kamine im Castle sind riesig. Da friere ich schon nicht.«
»Wir werden sehen«, wich er aus.
Wieder verzog sie das Gesicht. Er hob sie hoch, bis ihre Augen in gleicher Höhe waren, und küsste sie auf die Nase.
Sie kicherte, wurde dann aber sofort wieder ernst. »Bitte, Papa!« Sie lehnte sich in seinen Armen zurück und musterte ihn, und in diesem Moment sah er ihre Mutter in ihrem Gesicht.
Geh weg, Jeanne.
Das Produkt seiner Phantasie lächelte nur.
Jeanne zog sich an, und wieder vermisste sie das Medaillon ihrer Mutter. Es war die letzte Verbindung zu ihr und zu Vallans. Aber so sehr sie auch daran hing – sie würde deswegen auf keinen Fall in das Haus zurückkehren, aus dem sie geflohen war.
Beim Frühstück drehte sich die Unterhaltung des Personals wie üblich um Douglas und Margaret.
»Wann werden sie zurückerwartet?«, fragte Jeanne das Kindermädchen, als die Angestellten danach einer nach dem anderen vom Tisch aufstanden, und wartete mit Herzklopfen auf die Antwort.
»Die Zusammenkunft dauert einen Monat, und er kommt dann immer gleich zurück – wegen seiner Arbeit. Miss Margaret bleibt allerdings manchmal länger. Dieses Jahr war sie zum Beispiel vorher drei Wochen bei Mr. Hamish und seiner Frau auf dem Schiff. Sie liebt die beiden sehr.« Offenbar merkte sie Jeanne ihre Ungeduld an, denn sie setzte hinzu: »Ihr werdet sehen – eines Tages sind die beiden wieder da, und Ihr werdet Euch fragen, wo die Zeit geblieben ist.«
»Kann ich mich vielleicht irgendwie nützlich machen?« Sogar im Kloster hatte man ihr Aufgaben übertragen. Die unausgefüllten Stunden seit Douglas’ Abreise gaben ihr zu viel Gelegenheit zum Grübeln.
»O nein, Miss, das geht hier alles seinen Gang. Genießt Eure Freiheit. Ganz in der Nähe gibt es einen hübschen kleinen Park. Macht doch einen Spaziergang. Das werde ich später auch tun. Ist Euch jemals aufgefallen, dass die Luft nach einem Gewitter ganz frisch riecht?«
Jeanne sah zu, wie Betty den bereits sauberen Tisch abwischte, den Lappen auswusch und zum Trocknen hinlegte. »Geht Ihr vielleicht in die Stadt?«, fragte sie. »Dann würde ich Euch um einen Gefallen bitten, Betty.«
Das Kindermädchen schaute sie neugierig an. »Was kann ich für Euch tun, Miss?«
»Ich habe an meiner letzten Arbeitsstelle mein Medaillon vergessen und brauche jemanden, der es dort für mich abholt.«
»An Eurer letzten Arbeitsstelle?«
Jeanne faltete die Hände. Wie viel würde sie preisgeben müssen, damit Betty ihr half? »Ich war als Gouvernante für den ältesten Sohn im Haus von Robert Hartley.«
»Ich wusste nicht, dass Ihr hier in Edinburgh vorher schon in jemandes Dienst standet. Mr. Douglas sagte uns nur, dass Ihr aus Frankreich kämt.« Sie musterte Jeanne scharf. »Ihr habt doch Zeit, selbst hinzugehen, Miss.«
Jeanne überlegte und antwortete dann ausweichend: »Das möchte ich nicht.« Bettys hartnäckiger Blick ließ ihr keine Wahl. »Die Umstände zwangen mich, die Stelle aufzugeben.«
Bettys Augen wurden schmal. »Und was waren das für Umstände?«
»Ist das wichtig?«
»Entsprechen die Umstände hier eher Euren Erwartungen, Miss?«
In diesem Moment begriff Jeanne, dass das Personal wusste, dass sie mit dem Herrn das Bett teilte. Sie spürte ihre Wangen heiß werden und beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.
»Es muss mir anheimgestellt sein, ob ich einem Mann beiwohne oder nicht. Es ist meine Entscheidung. Ich lasse mich nicht dazu zwingen.« Genau darauf kam es ihr an – nicht darauf, als tugendhaft angesehen zu werden, sondern, Herrin über ihre Entscheidungen zu sein. Zehn Jahre lang hatte man ihr diesen Luxus verwehrt. Danach hatte sie sich geschworen, nie wieder eine Gefangene zu sein – nicht einmal die eines fremden Willens.
»Werdet Ihr auch uns
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