Ruf Der Tiefe
drauf …«
»Vergiss es, das nehme ich dir nicht ab«, sagte Leon schroff, doch Julian grinste nur und begann, in einer seiner Schubladen zu kramen. Schließlich holte er einen kleinen Gegenstand daraus hervor, glänzendes Silber, geformt wie ein Wassertropfen. Moment mal, war das nicht einer der Ohrringe, die Carima getragen hatte?
»Siehst du?« Julian grinste breit. »Das hier hat sie verloren – in meiner Koje.«
Leon stand noch immer mitten im Zimmer. Ein kühler Luftzug streifte seine nackte Brust, als Julian sich in der engen Kabine an ihm vorbeidrängte. Wie ein Idiot stand er da und fühlte sich auf einmal wieder linkisch, blass und vor allem unendlich naiv.
Spät am Abend – das hieß, es musste nach ihrer Begegnung im Lager passiert sein. Und er hatte sich eingebildet, dass es danach so etwas wie eine Vertrautheit, eine besondere Nähe zwischen ihnen gegeben hatte. Ja, alles eingebildet!
Carimas Tränen – die waren echt gewesen, kein Zweifel. Er hatte ihr die Selbstzweifel ausgeredet, und danach hatte sie sich so, wie es aussah, mit frischem Lebensmut Julian in die Arme geworfen! Machten das Mädchen so, war das ein Spiel, das er einfach nicht verstand?
Besser, ich vergesse sie. Und zwar so schnell wie möglich.
Leon knüllte sein T-Shirt zusammen, schleuderte es in eine Ecke, stopfte den Waschbeutel in den Schrank zurück und zog sich den Overall wieder über. Seine Gedanken eilten zu Lucy.
»Wo gehst du hin?«, rief ihm Julian erschrocken hinterher.
»Nach draußen!«, brüllte Leon zurück, und es war ihm vollkommen egal, dass wahrscheinlich jeder, der sich gerade in diesem Modul aufhielt, es hören konnte.
»Leon, das kannst du nicht machen! Ellard hat dich schon ein paarmal gewarnt, und wenn er dich diesmal schon wieder … Mann, der wird doch … und außerdem geht da draußen irgendwas Komisches vor, und du …«
Doch Leon hörte schon nicht mehr hin.
Fünf Minuten später stand er in der Schleuse und das dunkle Wasser hieß ihn mit Lucys Stimme willkommen.
Big Trouble
Ein kurzes Aufblitzen roter Glut, dann wälzte sich die Lava ins Meer. Zischend stieg Dampf auf, als sich das flüssige Gestein schlagartig abkühlte, nein, es war nicht nur Dampf, das waren irgendwelche anderen Gase, jedenfalls stank es ganz schön. Carima war froh, dass sie fünfzig Meter von dem Lavafluss entfernt stand, zusammen mit einem Dutzend anderer Touristen, die den Ausbruch ehrfürchtig und fasziniert beobachteten.
»Alle Hawaii-Inseln sind durch Vulkanausbrüche entstanden und noch heute verändert sich Big Island durch seine Feuerberge ständig«, erzählte ihr Tour-Guide, ein älterer Mann mit dem bronzefarbenen Teint der Hawaiianer. »Im Jahr 1990 hat es nicht nur das Fischerdorf Kalapana erwischt, sondern bei Kaimu auch unseren schönsten schwarzen Sandstrand – er ist jetzt unter zwanzig Meter Lava begraben. Es kostet eine Stange Geld, die Straßen in der Umgebung offen zu halten, weil die Vulkangöttin Pele immer wieder andere Pläne mit ihnen hat als wir.«
»Vielleicht stört es sie, dass niemand mehr an sie glaubt«, meinte ein amerikanischer Tourist, der bestimmt eine halbe Tonne wog. Immerhin, sein rot-orange gemustertes Hawaii-Hemd war nicht ganz so grell wie manche andere, die es auf den Inseln zu sehen gab und die fast schon Augenschmerzen verursachten.
Der Guide lächelte nicht, als er den Blick des Mannes erwiderte. »Woher wissen Sie denn, dass niemand mehr an Pele und die anderen unserer Götter glaubt? Gehen Sie mal an den Rand des Kraters, in dem Pele angeblich wohnt: Viele Menschen meines Volks legen dort noch immer Opfergaben ab.«
Carima schoss ein Foto von ihrer Mutter vor dem Hintergrund des Vulkanausbruchs, überprüfte es und runzelte die Stirn. Was für ein widerlich künstliches Lächeln auf Nathalies Gesicht – sie hatte vergessen, die Smile-Funktion der Kamera auszuschalten. Also noch mal das Ganze. In der Zwischenzeit war die Kamera automatisch ins Internet gegangen und fragte jetzt, an wen sie das Bild verschicken sollte. Genervt klickte Carima auf Nicht senden .
»Wie sieht Pele denn aus? Würden wir sie erkennen, wenn sie hier vorbeikäme?«, erkundigte sie sich dann beim Tour-Guide und blickte hoch zum schneebedeckten Gipfel des Mauna Loa, aus dessen Flanke der Vulkan Kilauea entsprang.
Der Guide wandte sich ihr zu. »Vielleicht, wenn Sie genau hinsehen würden. Der Legende nach erscheint sie den Menschen oben auf den Gipfeln als wunderschöne junge Frau –
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