Ruf Der Tiefe
gab! »Im Grunde weiß die Antwort doch jeder«, sagte Leon gereizt. »Es macht nur keiner was, bis es zu spät ist und alles den Bach runtergeht.«
Niemand schien sich an seinen schroffen Antworten zu stören. Irritiert sah Leon, dass Leah ein gebundenes Buch gezückt hatte und in einer wunderschönen, geschwungenen Handschrift alle Fragen und seine Antworten mitprotokollierte.
»Danke, das reicht«, sagte Joe. »Grünes Licht. Mein Bauchgefühl sagt, der ist in Ordnung.«
Nur noch einmal kurz schob Old Joe seine Sonnenbrille nach oben, ein nachdenklicher Blick traf Leon. »Viel Glück, Junge. Ich drück dir die Daumen, dass sie dich nicht erwischen.«
»Woher wissen Sie, dass ich geflohen bin?«, fragte Leon verdutzt. Das hatte weder Hope noch einer der anderen erwähnt.
Joe grinste und schob sich die Sonnenbrille wieder über die Augen. »Wenn einer die Brücken hinter sich abbricht, dann ist er meist in so ’ner ganz besonderen Stimmung. Halb Abschied und halb Neuanfang, mit ’ner gehörigen Prise Ungewissheit. Spürt man ziemlich deutlich an dir.«
Johnny nickte, Leah lächelte, Hope schlug Leon auf die Schulter.
Und dann ließen sie ihn endlich telefonieren.
Tausend Fragen, keine Antworten. Im Geiste ging Carima noch einmal jedes Wort durch, das Leon gesagt hatte. Und stutzte bei »Die Leute hier halten nicht viel von Kommunikation«. Was für eine seltsame Formulierung … Keine Kommunikation. No Communication. Woran erinnerte sie das? Irgendein Gedanke lauerte in ihrem Hinterkopf, irgendeine Erinnerung pochte gegen die Innenseite ihres Schädels und kam trotzdem nicht raus.
Moment mal … die NoComs!
Carima stürzte zum Mülleimer – Gott sei Dank, die zerknitterte Zeitung mit dem Titelbericht über den Quallen-alarm lag noch darin. Und da, auf einer der Innenseiten, eine halbe Spalte Text über eine neue Bewegung, der immer mehr Menschen beitraten, vor allem junge Leute. Sie nannten sich selbst NoComs – das stand für No Compromise. Aber auch für No Communication.
Google gab diesmal keine brauchbaren Auskünfte, Mist, wer konnte ihr weiterhelfen? Vielleicht Maja, ihre Bekannte aus dem Jugend-Meerescamp in Kiel; die engagierte sich für die Umwelt. Es dauerte nicht lange, über Facebook mit ihr Kontakt aufzunehmen, und anscheinend war Maja eine Nachteule und saß gerade am Computer, denn ein paar Minuten später war ihre Antwort da.
hi du! ja es gibt zwei nocom-siedlungen in deiner nähe, hab’s gerade mal nachgeschaut in nem verzeichnis, an das nicht jeder rankommt *grins* – eine gruppe ist auf der insel kauai und eine auf der insel hawaii, an der nordküste (waipi’o valley). willst du bei denen mitmachen? cool! maja
Im Waipi’o Valley auf der Insel Hawaii, genannt »Big Island« – das konnte es sein, sie erinnerte sich daran, dass Leon von einem Tal gesprochen hatte!
Waipi’o Valley. Dort befand sich Leon. Und vielleicht war sie, Carima, der einzige Mensch, der das wusste. Der ihm überhaupt helfen konnte.
Ihre Augen irrten zum Schlüssel ihres Mietwagens, der auf einem Seitentischchen lag. Auf der Karte hatte sie gesehen, dass das Tal nur etwa vierzig Meilen entfernt war, das konnte man mit einem robusten Geländewagen wie dem, den ihre Mutter gemietet hatte, wahrscheinlich in etwas über einer Stunde schaffen. Mit dem Auto konnte sie Leon zu einem Arzt bringen, konnte ihn vielleicht irgendwo hinfahren, wo er in Sicherheit war …
Als ihre Mutter in die Lobby ging, um dort mit Shahid und Jeremy zu skypen, glitt Carima aus dem Bett und begann schnell und konzentriert ihren Rucksack zu packen. Wasserflasche. Sonnencreme. Sie zog eine Shorts, T-Shirt und Sweatshirt, ihre robustesten Schuhe und eine Basecap mit dem eingestickten CW – ihr Vater hatte sie ihr einmal geschenkt – an. Schnell zählte sie, was ihre Reisekasse noch hergab, fand zweihundert Dollar in bar und ihre Kreditkarte. Letztere würde sie nur noch in der Umgebung des Hotels benutzen können, sonst konnte man sie dadurch aufspüren.
Schnell kritzelte sie eine Nachricht an ihre Mutter:
Hab gerade ein bisschen Hüttenkoller und gehe spazieren. Mach dir keine Sorgen, bin bald zurück. Cari.
Automatik-Autos waren toll. Keine komplizierte Gangschaltung, man stellte den Hebel einfach auf »D« und konnte losfahren. Carima schickte einen stillen Dank an ihren Vater, der mit ihr und seinem BMW schon ein paarmal auf dem Übungsplatz gewesen war, als Vorbereitung auf ihren Junior-Führerschein, den sie nächstes Jahr
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