Ruf der Vergangenheit
Vergessenen“, flüsterte sie so leise, dass er Mühe hatte, sie zu verstehen, denn wieder stieg wilder Beschützerinstinkt in ihm auf. „Ich erinnere mich … dieser Junge, er gehörte zu ihnen. Zu den Vergessenen.“ Sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, hielt dann einen Moment inne und stieß einen abgrundtiefen Laut der Enttäuschung aus. „Ich weiß etwas, aber ich kann es nicht greifen. Es betrifft den Jungen.“
Dev konnte sich schon denken, worum es ging: Jonquils Gabe, Leute buchstäblich zu allem überreden zu können; für Ming und die anderen Ratsmitglieder wäre er eine perfekte Waffe gewesen. Mächtige Mediale töteten eiskalt, wenn es ihnen notwendig erschien, aber sie zogen es vor, möglichst unentdeckt zu agieren – dann konnten sie die Verantwortung für die von ihnen inszenierten Taten leichter von sich abwälzen.
Dev sah zur Seite, Katya hatte die Finger an ihre Schläfen gepresst, als wolle sie einen Schmerz beruhigen – oder mit Gewalt in die verschlossene Kammer ihres Gedächtnisses eindringen, ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Schmerzen. Sein Instinkt regte sich, verdrängte sowohl das Metall als auch die zivilisierte Seite in ihm. „Wollen Sie unbedingt ein Aneurysma hervorrufen?“
Jede Zelle in ihr wappnete sich gegen diesen scharfen Ton. „Ich will mich einfach nur erinnern.“ Die schroffe Antwort gab ein Teil ihres Wesens, den sie erst nach ihrem Aufwachen im Krankenbett entdeckt hatte. Überrascht stellte sie fest, dass dieser Teil nicht gebrochen war … ein Phönix aus der Asche.
„Die Erinnerungen werden Sie auch nicht wieder zu der Person machen, die Sie einmal waren.“
„Ich glaube, nichts kann mich wieder dahin zurückbringen.“ Ihre Kehle wurde ganz trocken, als ein Fetzen der Erinnerung, der verlorenen Zeit auftauchte. „Ich war so kalt.“
„Sie waren in Silentium.“
„Ja.“ Sie blickte auf die Nebenspur hinüber. Alle Fahrzeuge bewegten sich in der gleichen Geschwindigkeit, die dafür sorgte, dass keine Staus entstanden, wie sie Ende der 20. Jahrhunderts üblich gewesen waren. Wenn ein Fahrer zu sehr vom Optimum abwich, schaltete sich die Automatik ein und synchronisierte die Geschwindigkeit mit der der anderen Fahrzeuge. Alles war perfekt programmiert. Genau wie ihr Gehirn. „Ich bin nur ein Werkzeug.“
Es gab keine Vorwarnung. Eben hatte sie noch gesprochen, im nächsten Moment fielen ihr die Augen zu, und sie bäumte sich vor Schmerzen auf. Dann … sank sie in sich zusammen.
„Katya!“ Er streckte die Hand aus, als Katyas Kopf zur Seite fiel, griff nach ihrem Handgelenk. Ihr Puls schlug kräftig, aber unregelmäßig.
Wo zum Teufel war die Ausfahrt? Hier! Er fuhr auf den Parkplatz eines großen Einkaufszentrums direkt neben der Schnellstraße. Nur Sekunden später hatte er sich abgeschnallt, war ausgestiegen und auf die andere Seite des Wagens zu ihr gelangt.
„Komm schon“, sagte er und nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Wach auf.“
Als keine Reaktion eintrat, konzentrierte er sich auf seine verbliebenen telepathischen Fähigkeiten und sprach auf diese Weise mit ihr. Vielleicht konnte er sie auf diese Weise erreichen und wieder zu Bewusstsein bringen.
Katya.
Als hätte ihr Puls einen Schluckauf.
Ganz recht, Katya, das ist dein Name. „Komm zurück. Du bist stärker als all das.“ Wieder der Schluckauf im Pulsschlag. „Katya.“ Zärtlich, wie ein Kuss.
Gefangen im Spinnennetz, dessen klebrige Fäden sie immer fester umfingen, hörte Katya einen Namen. Ihren? Ja, dachte sie und kämpfte gegen den Nebel an, wollte aufwachen. Das war ihr Name. Der erste Atemzug war ein Husten, der zweite brachte den Geruch des Mannes mit den nicht-nur-braunen Augen und köstlich schimmernder, verlockender Haut. „Katya“, sagte sie, ihre Kehle fühlte sich sonderbar rau an. „Das bin ich.“
Dev hielt ihren Kopf fest, die goldbraune Haut spannte über seinen Wangenknochen. „Wir müssen zum Krankenhaus zurück.“
„Nein.“ Instinktiv, ohne groß darüber nachzudenken. Wenn er sie zurückbrachte, säße sie erneut in der Falle – und sie musste sich bewegen können, um dahin zu gelangen. Wohin denn bloß? Sie schüttelte den Kopf, um den Nebel zu vertreiben, und streckte die Hand nach seiner Schulter aus. Spürte seine Muskeln und hatte Mühe, klare Gedanken zu fassen.
Aber er wirkte so entschlossen, dass sie etwas sagen musste. „Ich glaube, es gab irgendeinen Auslöser. Meine Worte … irgendetwas konnte mein Verstand
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