Ruf der Vergangenheit
der Hand durchs Haar. „Wenn er sich ruhig verhält, lassen wir es dabei bewenden. Wir haben sowieso noch keine Lösung.“
„Wir sollten uns aber bald etwas einfallen lassen. Sonst könnten sich die Vergessenen spalten.“
„Ich weiß.“ Dev lehnte sich in seinem Sessel zurück und entdeckte etwas Goldenes auf seinem Schreibtisch … ein Haar von Katya. Er konnte es mitgebracht haben, aber sie konnte auch genauso gut hier gewesen sein. Sie hätte nichts gefunden, aber sie durfte sich auch nicht dermaßen frei bewegen, durfte keine Möglichkeit zur Sabotage bekommen.
Er wandte den Blick ab und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf das andere Thema. „Bist du damit einverstanden, die Collegefraktion im Auge zu behalten?“
„Ja. Ich mache einen Vermerk in den Akten – wenn sie sich allein durchschlagen wollen, müssen wir dennoch die Möglichkeit haben, einzugreifen, falls sich mediale Gene bei ihren Kindern zeigen.“
„Das war schon immer die Aufgabe von Shine .“ Sie mussten die Kinder schützen. Selbst wenn es den Tod einer medialen Wissenschaftlerin zur Folge hatte … Devs schraubstockartiger Griff hätte beinahe den Briefbeschwerer zermalmt.
Archiv Familie Petrokov
Brief vom 7. Juni 1972
Liebster Matthew,
ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, vielleicht schreibe ich einfach auf, was geschehen ist, damit du dir eine eigene Meinung bilden kannst. Heute Morgen habe ich zufällig Tendaji und Naeem Adelaja getroffen.
Die Familie war zu einem Treffen mit dem Rat ins Regierungsviertel bestellt worden, und du kannst dir sicher vorstellen, wie stark die Sicherheitsvorkehrungen waren. Ihr älterer Bruder Zaid sah so schmerzgepeinigt und doch so entschlossen aus. Als ich seinen Blick sah, wusste ich, er würde alles für Mercury tun.
Aber ich eile voraus. Durch meine Arbeit als Assistentin des Ratsmitglieds Moron habe ich gewisse Zugangsrechte, aber beileibe nicht genug für ein Treffen mit den Adelajas, die inzwischen so wichtig für unsere ganze Gattung geworden sind. Heute war ich früh dran, weil ich noch einen Bericht fertigstellen musste. Als ich in die Eingangshalle kam, sah ich drei Männer in den Aufzug zum höchsten Sicherheitsbereich steigen. Ich dachte mir nichts weiter dabei, bis jemand meinen Namen rief.
Zaid hielt die Fahrstuhltüren auf. Er kannte mich noch von damals, als die Adelajas in unsrer Straße gewohnt haben – dein Vater und ich waren gerade frisch verheiratet. Ich ging zu ihm hin, und alle drei Männer traten noch einmal in die Halle heraus, um ein wenig mit mir zu plaudern, bevor sie zu ihrem Treffen fuhren.
Zaid habe ich immer gemocht. Er war ein so ernstes Kind – ich wusste, dass er die Bürde einer schrecklichen Gabe trug. Jetzt wirkt er wie ein Soldat, stark, zu allem entschlossen und stolz. Die jüngeren Zwillinge sind sehr groß und schlank und so kalt, dass ich beinahe ihren eisigen Atem sehen konnte. Tandaji sprach für seinen Bruder mit – sehr höflich und zweifellos äußerst intelligent. Dennoch kam es mir vor, als unterhielte ich mich mit Schatten – als fehlte etwas Entscheidendes.
Nein, fehlen ist nicht das richtige Wort. Etwas war tot. Als hätte ein Teil von ihnen aufgehört zu existieren. Ich sagte das natürlich nicht und unterhielt mich in der kurzen Zeit hauptsächlich mit Zaid. Hoffentlich findet er eines Tages seinen Frieden. Ich kann nicht leugnen, dass ich heute etwas davon in ihm wahrgenommen habe.
Wenn das stimmt, ist Silentium vielleicht wirklich eine Möglichkeit. Aber der mutige, starke und entschlossene Zaid ist nicht die Zukunft, die Mercury vorschwebt. Ihre Vision sind die Zwillinge. Und die sind so weit von jeder Menschlichkeit entfernt, dass ich Furcht empfinde bei dem Gedanken, wohin ein solcher Weg unsere freie schöne Gattung führen wird. Wird das Medialnet eines Tages in Dunkelheit versinken, unser Verstand kalt werden und die Sterne ohne jede Verbindung zueinander stehen?
Ich weiß es nicht. Und das ängstigt mich unsagbar.
Mit meiner ganzen Liebe
Mamotschka
16
Katya fuhr zusammen, als Dev das Sonnenzimmer betrat, in dem sie sich alte Nachrichtensendungen anschaute, um ihr Gedächtnis auf Trab zu bringen. Seine Augen richteten sich auf das Studentenfutter in ihrer Hand.
Ihre Wangen brannten. Fast hätte sie es ihm ins Gesicht geworfen, als er ihr die Tüte nach dem knappen „Nein“ heute Morgen gegeben hatte. Nun rangen Ärger und Verlangen in ihr, raubten ihr die Stimme. Sie konnte nichts weiter tun, als
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