Ruf der Vergangenheit
keine Option.“ Eine Entscheidung aus dem Bauch heraus. „Sie ist schon vom Medialnet abgeschnitten. Wir würden sie buchstäblich zum Krüppel machen.“
„Du nimmst ihr die Geschichte also ab?“
„Keine Ahnung.“ Er sah, wie Tag das Gesicht verzog. „Spuck’s aus.“
„Du weißt genau, was ich sagen will.“ Tag zuckte die Achseln. „Du solltest die Sache jemand anderem übergeben – Katyas Gefühle dürfen keine Rolle spielen. Es geht um wirksame Kontrolle.“
Das war Dev klar. Und genauso klar war ihm auch, dass er es niemals zulassen würde. Sie gehörte ihm – was auch immer geschah, er würde keine Einmischung dulden. „Vielleicht hat der Rat diesmal genau das Richtige getan.“ Er ging langsam den Flur hinunter.
„Vielleicht.“ Tag schloss sich ihm an. „Aber vielleicht kennen sie dich doch nicht so gut, wie sie glauben.“
„Du hältst mich also nicht für einen Trottel, der auf hilflose Frauen reinfällt?“ Seit seinem neunten Geburtstag saß dieser Dorn in ihm, und niemand würde ihn je herausziehen.
„Du hast zwar eine schwache Seite, aber das hindert dich nicht daran, zu tun, was der Direktor von Shine tun muss“, sagte Tag, während sie auf den Fahrstuhl warteten.
„Dann rettet mich also die Tatsache, dass ich ein eiskalter Hund bin?“
Tag verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln. „Im letzten Aufsichtsrat saßen lauter nette Männer und Frauen. Der Rat hat uns beinahe bei lebendigem Leibe gefressen. Da ist mir ein Haifisch an der Spitze doch lieber.“
Archiv Familie Petrokov
Brief vom 1. September 1976
Lieber Matthew,
heute hast du mit deinem Vater und Emily gespielt. Ihr habt so sehr gelacht, dass mein Herz vor Freude hüpfte. Dein Vater schafft es inzwischen, einige Stunden am Stück geistig klar zu bleiben. Ich frage mich allerdings, um welchen Preis.
Heute musste er einen weiteren Schlag einstecken, dein Onkel Greg hat sich für Silentium entschieden. Ich glaube nicht, dass dein Vater damit gerechnet hat, aber Gregs seherische Fähigkeiten sind noch stärker als die von David. Diese Albträume in seinen Augen … ich wünschte, ich könnte ihm helfen. Aber ich bin nur eine M-Mediale, entdecke Krankheiten.
Manche meinen, ich würde deshalb nicht verstehen, wie wichtig Silentium ist. Um Gottes willen, wie kommen sie nur darauf? Ich bin mit einem V-Medialen verheiratet, meine Kinder sind Telepathen. Ich weiß, welchen Preis sie zahlen – bis zur letzten Träne, dem letzten angstvollen Atemzug und dem letzten Aufleuchten in den Augen deines Vaters.
Ich habe ihm sogar gesagt, dass Greg vielleicht richtig gehandelt habe, dass Silentium vielleicht wirklich Leuten mit ihren Gaben helfen könnte. Er ist nicht wütend geworden, denn er weiß doch, dass ich ihn aus tiefstem Herzen liebe – zusehen zu müssen, wie sein Verstand unter den dunklen Visionen zerbricht … ist unerträglich. Aber weißt du, was er mir geantwortet hat?
Er sagte, er würde lieber verrückt werden, als alles auszulöschen, was ihn ausmachte. Würde lieber einen einzigen Tag seine Liebe für euch und mich spüren, als ein ganzes Leben ohne die „schreckliche, alles erfassende Wut“ zu verbringen. Manchmal ist dein Vater ein Dichter. Das wusstest du noch nicht, nicht wahr? Mit einem Lächeln schreibe ich diese Zeilen, denn wir haben eine Entscheidung getroffen. Gegen Silentium. Aber ich fürchte, wir werden in der Minderheit bleiben.
Von ganzem Herzen
Mamotschka
25
Katya spürte sehr genau, dass Dev sich nur mühsam beherrschte, als er neben ihr im Flugzeug saß. Er hatte sie ganz hinten untergebracht und ihr eingeschärft, sie solle nur nicht versuchen herauszufinden, wer mit ihnen flog – obwohl die beiden Personen vor ihnen kaum zu übersehen waren. Den großen Mann hatte Dev Tag genannt, als er ihn ihr vorstellte, die andere war eine bildschöne Frau mit langen, blauschwarzen Haaren und einem blendenden Lächeln in ihrem Supermodel-Gesicht.
Es flog noch jemand mit, aber Katya bekam ihn oder sie nicht zu Gesicht. Sie versuchte nicht, auf telepathischem Wege herauszubekommen, um wen es sich handelte. Dev hatte vor dem Start einen Injektor aus der Jackentasche gezogen. Sie hatte mit einer Drohung gerechnet, aber was er sagte, hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.
„Wenn du mich zwingst, das hier zu benutzen“, hatte er mit düsterem Blick gesagt, „werde ich dir das nie vergeben.“
Das war der Augenblick, in dem sie zum ersten Mal den wirklichen Devraj Santos
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