Ruf der Vergangenheit
erlebt hatte. Kurz darauf war er wieder hinter seiner Wand verschwunden, hatte sich den kleinen Computer aus der Rückenlehne des Vordersitzes geschnappt und begonnen zu arbeiten. In den vergangenen zehn Minuten hatten sie nicht ein Wort miteinander gewechselt.
Sie beobachtete, wie Tag seine wunderbare Begleiterin nicht aus den Augen ließ, als sie den Gang entlangging, um sich Wasser zu holen. Sobald sie sich auf den Rückweg machte, fuhr sein Kopf zum Fenster herum. Katyas Lippen zuckten.
„Was ist denn so lustig?“
Überrascht starrte sie Dev an. Er sah immer noch auf den Mini-Bildschirm. „Woher weißt du das?“
„Ich weiß es eben.“
In der Wohnung hatte sie sich geschworen, nichts weiter als höflich zu sein. Er war kein Freund – denn er glaubte ihr ja nicht. Aber jetzt erkannte sie, dass Distanz sie nicht weiterbrachte. Damit kannte sich Dev einfach zu gut aus – konnte sie jederzeit ausschließen.
Aber Lachen schien nicht sein Gebiet zu sein. Und obwohl sie eine Mediale war, keimte in dem auferstandenen Phönix ein wenig Humor auf.
„Tag starrt immer diese Frau an, sobald er glaubt, dass niemand es bemerkt“, sagte sie leise.
„Sie heißt Tiara.“ Dev gab etwas in sein Gerät ein. „Bei Shine läuft eine Wette um die beiden.“
Das weckte ihre Neugier. „Worum geht es dabei?“, fragte sie, als Dev schwieg.
„Wann Tag den Mut findet, sie um ein Date zu bitten.“
Ungläubig starrte Katya auf den großen Mann mit dem steinernen Gesichtsausdruck. „Dein Freund sieht nicht so aus, als hätte er vor irgendetwas Angst. Der würde es ohne mit der Wimper zu zucken mit dem Rat aufnehmen.“
„Das ist ja das Lustige daran.“
„Oh.“ Nun war ihr alles klar. Tiara brachte Tag auf einer ganz anderen Ebene durcheinander. Eine weitere Erinnerung stellte sich ein. „Früher habe ich nie verstanden, warum die Frauen der Menschen und Gestaltwandler ohne Silentium den Männern überhaupt trauen konnten.“
Jetzt sah er sie endlich an.
„Vor allem größeren und stärkeren Männern. Als Sascha Duncan sich mit dem Alphatier der DarkRiver-Leoparden zusammentat, da verstand ich einfach nicht, wie sie sich bei ihm sicher fühlen konnte.“
„Gibt es im Medialnet denn keine Gewalt von Männern gegen Frauen?“
„Nein, jedenfalls nicht in diesem Sinne. Häusliche Gewalt ist unbekannt – ich nehme an, die Möglichkeit besteht gar nicht“, sagte sie und sah den Mann an, der ebenso gut als Alphatier seines Volks gelten konnte, der genauso gefährlich, gar tödlich war wie die Alphatiere der Gestaltwandler. „Männer unter Silentium sind kalt und kontrolliert. Doch die Männer außerhalb? Ihr könnt so wütend werden – nichts kann euch dann noch davon abhalten, einem Schwächeren etwas anzutun.“
Plötzlich war es mit einem Schlag kälter geworden, sie meinte fast, den Atem in der kalten Luft zwischen ihnen zu sehen. „Du musst ja sehr gründlich recherchiert haben.“
„Was meinst du damit?“
Dev starrte sie völlig ausdruckslos an. Dann wandte er sich wieder seinem Computer zu. „Vor dir im Sitz steckt auch einer, sogar mit einem Unterhaltungsprogramm.“
Sie wusste nicht, woher sie den Mut nahm, aber sie griff nach seinem Gerät und stellte es ab. Er streckte nur die Hand aus. „Zu deinem Glück speichert es automatisch.“
Sie gab ihm das Gerät nicht zurück, schob stattdessen ihre Armlehne nach unten. „Ich werde meine Schilde senken.“
Absolute Stille, selbst das Gemurmel der anderen Passagiere war nicht mehr zu hören.
„Das kannst du nicht“, sagte er schließlich. „Oder war es etwa nur eine weitere Lüge, dass du vom Medialnet abgeschnitten bist.“
Der Schlag war ganz bewusst geführt, aber sie ließ sich davon nicht abschrecken. „Ich kann nicht ins Medialnet, aber er hat meine Fähigkeit sonst nicht eingeschränkt –“
„Warum nicht?“, wollte Dev wissen.
„Wahrscheinlich erfordert eine völlige Abschottung dauernde Aufmerksamkeit.“ Ihre Kehle war staubtrocken, ihr Mund fühlte sich an, als wäre er voller Kieselsteine. „Vielleicht wollte er auch, dass ich meine Fähigkeiten nutzen kann. Aber ganz egal aus welchen Gründen, ich habe die Kontrolle über meine Schutzschilde und kann sie senken.“
„Ist das eine Drohung oder ein Angebot?“ Kalte Worte, eine unbewegte Miene.
„Ein Angebot.“ Sie hatte genug davon, ständig mit Misstrauen betrachtet zu werden. „Du hast doch auch telepathische Fähigkeiten. Reichen sie, um einen Verstand zu
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