Ruf der verlorenen Seelen
eins
draufsetzen.
Violet sollte Angst haben. Panik.
Vielleicht nächstes Mal.
Sie sah, wie Violet die Kiste mit hinters Haus nahm, und
meinte, in dem diffusen Licht des hoch am Himmel stehenden
Mondes zu sehen, wie sie die Lippen bewegte. Mit wem sprach
sie da? Mit sich selbst? Mit der toten Katze?
Dann verschwand Violet hinter dem Haus.
Das Mädchen blieb im Wald und fragte sich, was Violet wohl
machte. Vielleicht war das ihre Chance abzuhauen, aber sie
wollte sehen, was Violet als Nächstes tat. AuÃerdem war sie zu
wütend, um jetzt schon zu verschwinden.
Sie hasste Violet. Jetzt noch mehr denn je.
Sogar mehr als sich selbst.
Als Violet zurückkam, hatte sie immer noch die Kiste dabei,
aber die war jetzt leer. Das konnte man daran sehen, wie Violet sie trug, nicht an die Brust gepresst, sondern locker an der
Seite.
Wo war die Katze? Hatte Violet sie irgendwo hingelegt? Sie
weggeworfen? Begraben?
Ohne sich umzuschauen, ging Violet mit schnellen Schritten
durch den Garten zum Haus.
In diesem Moment überlegte das Mädchen, ob sie sich zeigen
sollte. Sie stellte sich vor, wie es wäre, Violet wehzutun, nur um
in ihrem Gesicht den Ausdruck zu sehen, den sie so gern sehen
wollte.
Sie stellte sich vor, Violet mit bloÃen Händen zu schlagen. Ihr
die Augen zu zerkratzen. Ihr die Haare vom Schädel zu reiÃen.
Angst. Panik.
Sie stellte sich vor, Violet das Gesicht zu zerschneiden.
Bitten. Flehen.
Sie stellte sich vor, ihr das Genick zu brechen.
Ende.
Da machte Violet die Haustür hinter sich zu und überlieà sie
ihren Fantasien.
10. Kapitel
Was glaubst du, warum er mich noch nicht gefragt hat?«,
fragte Chelsea, wickelte ein Kaugummi aus und steckte es in
den Mund. Es war schon das dritte.
»Schsch«, machte Mrs Hertzog und legte einen Finger auf
die Lippen.
Chelsea schaute die Bibliothekarin böse an, senkte jedoch
die Stimme, als sie sich über den Tisch beugte und ihre Frage
wiederholte: »Mike Russo! Wieso hat er mich wohl noch nicht
gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will?«
Violet wusste längst, wer »er« war, ohne dass Chelsea einen
Vor- oder Nachnamen nennen musste. Für Chelsea gab es
kaum noch ein anderes Gesprächsthema, aber heute machte
es Violet gar nichts aus. So brauchte sie an nichts anderes zu
denken.
Violet hatte niemandem von der Katze erzählt. Weder Jay
noch ihren Eltern. Niemandem.
Irgendwie hatte das Ereignis sie verändert. Es war ihr kleines
Geheimnis.
Als sie daran dachte, wie sie zitternd vor Kälte dagestanden
und in den Karton mit der toten Katze geschaut hatte, begriff
sie, dass ihre Fähigkeit, Tote aufzuspüren, gegen sie verwendet
worden war. Und derjenige, der das getan hatte, war sich dessen
vermutlich gar nicht bewusst.
Wer auch immer den Karton mit der Katze abgestellt hatte,
konnte nicht wissen, dass Violet davon aufwachen würde.
Ebenso wenig konnte er wissen, dass er selbst das Echo der
Katze für immer als Zeichen tragen würde. Violet konnte also
herausfinden, wer es getan hatte, das Echo lieà sich nicht verbergen.
Sie ging davon aus, dass es jemand war, den sie kannte. Warum
sollte er ihr sonst eine tote Katze neben das Auto legen? Früher
oder später würde sie schon herauskriegen, wer das getan hatte.
Allerdings war sie sich gar nicht sicher, ob sie das und den
Grund dafür wirklich wissen wollte. Manchmal war es besser,
etwas nicht zu wissen. Einfacher. Und vielleicht auch ungefährlicher.
Aber wenn jemand ein unschuldiges Tier tötete, um eine
Botschaft zu übermitteln oder eine Warnung auszusprechen,
wie weit würde so jemand gehen?
Sie wusste, dass sie sich Sorgen um sich selbst machen müsste.
Aber sie hatte auch noch um andere Angst.
Um Carl. Um ihre Freunde. Und ihre Familie.
»Ich hab dir doch schon gesagt, Chels, du musst ihm Zeit
lassen«, sagte Violet und sprach dabei um einige Dezibel leiser
als Chelsea, die rein physisch gar nicht in der Lage war, leise zu
sein. Sie und Mrs Hertzog lagen deshalb im Dauerstreit. »Hat er dich überhaupt schon mal angerufen?«, fragte Violet, obwohl
sie die Antwort bereits kannte. Chelsea wäre vor Freude
im Dreieck gesprungen, wenn es so wäre.
»Nein«, antwortete Chelsea betrübt. Dann lieà sie eine
Kaugummiblase zerplatzen und erntete einen weiteren bösen
Blick der Bibliothekarin. Sie achtete nicht darauf. »Ich versteh's
nicht. Ich hab ihm alles geboten, was ich drauf hab,
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