Ruf der verlorenen Seelen
bemitleidenswert aus, dass Violet ihn am liebsten in den Arm
genommen hätte.
»Ach so«, sagt er schlieÃlich. Und dann: »Na ja, vielleicht
ein andermal.«
»Ja, klar«, rief Chelsea über die Schulter und zog Violet mit,
weg von der peinlichen Situation.
»Mann, Chels, du hast ihm das Herz gebrochen! Wieso sagst
du nicht einfach, du hast irgendeine seltene Krankheit oder
so?« Violet sah Chelsea vorwurfsvoll an. »Das finde ich nicht
cool von dir.«
»Der erholt sich schon wieder«, meinte Chelsea. »AuÃerdem,
wenn ich Krankheit als Grund genannt hätte, hätte er mir garantiert Hühnerbrühe gekocht und mir Bäder angeboten.«
Sie rümpfte die Nase. »Igitt.«
In dem Stil ging es den ganzen Nachmittag weiter. Familiäre
Verpflichtungen . Schwere Klausur. Hausarrest. Diese Geschichten
tischte Chelsea allen auf, die eigentlich mitkommen wollten,
sogar Claire. Sie war gnadenlos.
Samstagabend waren sie dann also zu viert: Violet, Jay, Chelsea
und natürlich Mike. Genau das, worauf Chelsea hingearbeitet
hatte.
Sie hatten beschlossen, alle zusammen zu fahren, natürlich
mit Jays Auto. Als sie bei Mike vorbeifuhren, wollte Violet aussteigen
und sich nach hinten zu Chelsea setzen, damit Mike mit
seinen langen Beinen vorn sitzen konnte, aber Jay hielt sie am
Handgelenk fest.
»Was machst du da? Bleib hier bei mir.« Er verschränkte die
Finger mit ihren, als er sie wieder ins Auto zog. »Mike kann
doch hinten sitzen.«
Violet wurde rot vor Freude.
Mike kam heraus und sprang von der Veranda, ohne die Stufen
zu berühren. Hinter den dunklen Vorhängen flackerte der
Fernseher.
»Da kommt er!«, quiekte Chelsea und hüpfte wie ein kleines
Mädchen auf der Rückbank, sodass der ganze Wagen wackelte.
Sie klatschte begeistert in die Hände.
Violet rückte mit dem Sitz vor, damit Mike mehr Platz hatte.
Den würde er auch brauchen, wenn er mit Chelsea hinten saÃ.
»Heeyyy Mike«, sagte Chelsea gedehnt, als er einstieg. Es
klang so ungewohnt schmalzig aus ihrem Mund.
»Hey«, erwiderte Mike. Kurz und nicht gedehnt.
»Dann sind wir heute wohl nur zu viert«, schnurrte sie.
»Echt? Ich dachte, wir würden mit ganz vielen losziehen.«
»Nee. Nur wir. Die anderen haben alle abgesagt.«
Violet lächelte in sich hinein. Es war verblüffend, wie aufrichtig
das klang.
Aber Violet wusste es besser. Und an dem Blick, den Jay ihr
zuwarf, sah sie, dass er auch Bescheid wusste.
Mike dagegen war noch zu neu, um zu kapieren, wie Chelsea
tickte. Eine kurze Pause trat ein und Violet hätte schwören
können, dass ein Lächeln in seiner Stimme lag, als er sagte: »Ist
ja cool.«
Mal sehen, ob er das später auch noch findet , dachte Violet, wenn
Chelsea jede Zurückhaltung aufgibt und sich mitten im Kino auf ihn
stürzt. Es sei denn, er steht auf so was . Sie grinste still in sich hinein.
Dann überlegte sie sich, ob Jay sich auf sie stürzen würde.
Hoffentlich.
11. Kapitel
Die eigentliche Vorstellung begann, als sie beim Java
Hut hielten, um die Zeit vor dem Film totzuschlagen.
Das Java Hut war ursprünglich ein Internetcafé gewesen,
zu einer Zeit, als noch nicht jeder einen Computer zu Hause
hatte. Als das Konzept überholt war, wandelte sich das Java Hut
zum idealen Café, in dem man nach der Schule und am Wochenende
abhängen konnte. Jetzt gab es dort nicht nur Kaffee,
sondern auch Burger, Pommes und Eis, und auÃer Computern
gab es auch Videospiele. Und an diesem Abend war es dort, wie
jeden Samstag, voll und laut.
Als sie reinkamen, fragte sich Violet, ob sie sich je daran gewöhnen
würde, dass Jay überall die Blicke auf sich zog. Mädchen
in jedem Alter fanden ihn anziehend und Violet verstand
auch, warum. Es lag daran, dass er sich seiner Ausstrahlung gar
nicht bewusst war. Alle Frauen versuchten, wenigstens kurz
seine Aufmerksamkeit zu erhaschen.
Kellnerinnen umschwärmten ihn. Kassiererinnen lieÃen sich
Zeit mit dem Wechselgeld und zögerten den Moment in die
Länge, in dem ihre Hände sich streiften. Selbst die Lehrerinnen
waren bei ihm weniger streng. Er durfte seine Hausaufgaben
auch mal später abgeben, und wenn er nicht pünktlich zum
Unterricht kam, gab es häufig keinen Vermerk.
Jay merkte all das gar nicht, selbst wenn Violet ihn darauf
hinwies. Er dachte, die Frauen wären nur nett oder »machten
ihre Arbeit«.
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