Ruf der verlorenen Seelen
der Seele lag.
Violet seufzte. Sie glaubte, sie könnte es einfach abschütteln
und ihre Sorgen begraben. Stattdessen hörte sie sich selbst fragen:
»Warum war es immer so ein Geheimnis?« Und als sie
sich nicht sicher war, ob ihre Mutter sie verstand: »Du weiÃt
schon ⦠das mit den Toten. Warum habt ihr immer so ein Geheimnis
darum gemacht?«
»Hmm.« Ihre Mutter nickte, als würde sie alles verstehen.
»Ich hab mich schon gewundert, dass du nicht fragst.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich. Ich hatte die Frage schon erwartet. Letztes Jahr, als
all das passiert ist, da hab ich damit gerechnet, dass du darüber
sprechen willst. Aber nein. Du warst immer so tapfer und hast
alles für dich behalten.« Sie lächelte ihre Tochter nachdenklich
an. »Ich bin froh, dass du jetzt darüber reden willst.«
Violet war nicht so überzeugt. Sie fand es immer schon
schwer, über ihre Gefühle zu sprechen. Auf einmal hätte sie die
Frage gern zurückgenommen und vergessen, dass sie je davon
angefangen hatte.
Aber ihre Mutter lieà ihr keine Chance. »Es sollte nie ein
Geheimnis sein, Violet. Natürlich wollten wir dich schützen,
aber vor allem wollten wir dir die Entscheidung überlassen,
wem du es sagst und wie viel du preisgibst. Und wann. Wir
konnten es nicht einfach herumposaunen. Wir haben beschlossen
zu warten, bis du selbst entscheiden kannst. Für uns ist es in
Ordnung, wenn die Leute davon wissen â oder auch nicht, ganz
wie du willst.« Sie nahm ihre Tasse, ein kleines antikes Stück,
und trank einen Schluck Tee.
Violet dachte darüber nach. Mit dieser Antwort hatte sie
nicht gerechnet. Sie war immer davon ausgegangen, ihre Familie
würde von ihr erwarten, dass sie das Geheimnis für sich
behielt.
»Hat Oma es jemandem erzählt?« Auf einmal wollte sie wissen,
wie ihre Vorfahren mit dieser Gabe umgegangen waren.
Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch, dann lachte sie.
»Deine Oma hat es jedem erzählt, der es hören wollte oder
auch nicht. Als sie noch ein Mädchen war, hat der Lehrer sie
einmal nach Hause geschickt, weil sie davon erzählt hatte, dass
sie tote Tiere fand. Allerdings hat deine Oma nie einen toten
Menschen aufgespürt.« Sie streichelte Violets Wange.
»Und wieso, glaubst du, hast du es nicht geerbt?«
Ihre Mutter zuckte die Achseln und ein Lächeln umspielte
ihre Lippen. »Pech gehabt, nehme ich an.«
»Na ja«, murmelte Violet. Die Vorstellung, es könnte ein
Glück sein, getötete Lebewesen zu finden, fand sie ziemlich
abwegig. Dann dachte sie an ihren merkwürdigen Nachmittag
beim FBI. »Würdest du es an meiner Stelle jemandem erzählen?
«
Ihre Mutter stand auf und räumte den Tisch ab. »Ich würde
darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, andere einzuweihen,
und dann würde ich einfach auf meinen Bauch hören«, sagte
sie und räumte das schmutzige Geschirr in die Spüle. Sie zwinkerte
Violet zu. »Eins weià ich, mein Schatz. Ich bin mir sicher,
dass du dich richtig entscheidest, so oder so.«
Mit diesen Worten ging sie aus der Küche und lieà Violet mit
lauter Fragen zurück. Irgendwie hatte sie erwartet, dass ihre
Mutter das bestätigen würde, was sie immer gedacht hatte: dass
es ein Geheimnis war. Und dass das immer so bleiben sollte.
Jetzt hatte sie auf einmal die Wahl und ihr schwirrte der
Kopf. Sie könnte es noch jemandem erzählen und dem FBI
helfen. Sie könnte gezielt Mörder aufspüren.
Es war eine zu schwere Entscheidung. Und im Moment war
sie sowohl körperlich als auch seelisch zu erschöpft, um darüber
nachzugrübeln.
Sie schaltete das Licht aus und ging hinauf in ihr Zimmer.
Obwohl sie so müde war, ging sie nicht gleich schlafen. Sie
legte sich mit den Akten aufs Bett, die Rafe ihr mitgegeben
hatte.
Sie wusste natürlich, was Sara erwartete und was sie dachte.
Sie glaubte wohl, Violet hätte übersinnliche Fähigkeiten und
könnte aus einem Stapel Fotos und Polizeiberichten etwas herauslesen.
Als bräuchte Violet nur mit den Händen über die
Beweismaterialien zu fahren und hätte dann die Lösung.
Wenn es so einfach wäre.
Violet nahm sich als Erstes die Akte über den Fall des kleinen
Jungen vor. Sie betrachtete ein Foto von seinem Gesicht. Sie
fuhr mit den Fingerspitzen über das Bild, zeichnete die Linie
seines niedlichen Mundes nach und fragte
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