Ruf der verlorenen Seelen
Violet zu offenbaren. Die
Vorstellung hatte was.
Wenn sie nun wirklich jemandem die Wahrheit sagen würde?
Ihre Last teilen könnte?
Aber was sollte sie sagen? Dass ihre Mutter abgehauen war?
Dass ihr Vater ein Säufer war?
Sie machte sich nichts vor. Sie würde es niemandem erzählen.
Sie konnte keinem vertrauen. Keiner interessierte sich für
ihr erbärmliches Leben.
Schon gar nicht Violet Ambrose.
Sie kam zu einer offenen Tür und atmete erleichtert auf. Sie
reihte sich in den Strom der Schüler ein, die durch die Flure
zur nächsten Stunde gingen. Sie ging mit ihnen und war sich
sicher, dass sie nicht mehr wahrnehmbar war.
So, wie sie es wollte.
Anonym. Eine von vielen.
Ein ganz gewöhnliches Mädchen.
17. Kapitel
Als Violet und Jay nach der Schule zusammen zum Parkplatz
gingen, schaute Violet alle Schüler um sich herum genau
an. Suchend.
Keiner von ihnen trug ein Echo an sich.
Sie sagte sich, dass sie es einfach vergessen sollte, aber das
ging nicht.
»Hey, da ist was für dich«, sagte Jay und zog einen rosa Zettel
unter dem Scheibenwischer hervor. Bevor er ihn ihr reichte,
schnupperte er daran. »Riecht gut.«
Violet lachte, dann schaute sie auf den Zettel.
Ihr Name war mit lila Filzstift in einer Mädchenschrift darauf
geschrieben. Sie schnupperte, er roch nach Trauben. Der
Zettel war mit einem kleinen Herzsticker zugeklebt.
»Komisch.« Sie fummelte an dem Sticker herum und schaute
Jay durchtrieben an. »Vielleicht hab ich einen heimlichen Verehrer.
«
Jay warf seine Schultasche auf die Rückbank, dann stieg er
ein und lieà den Motor an.
Violet faltete den Zettel auseinander und las ihn. Ihr blieb
das Herz stehen.
Die Schrift war innen dieselbe wie auÃen. Sie las die Worte
erneut, vielleicht hatte sie etwas falsch verstanden.
Aber nein.
Sie faltete den Zettel wieder zusammen, schnell diesmal, und
versuchte, das unangenehme Gefühl, dass jemand sie beobachtete,
zu verscheuchen. Sie steckte den Zettel in die Schultasche,
dann warf sie die Tasche zu Jays auf die Rückbank.
»Und? Von wem war der Liebesbrief?«, fragte er, als sie einstieg.
Violet schüttelte den Kopf und suchte vergeblich nach Worten.
Sie kam sich vor wie in ihrem Albtraum. Als wäre sie gefangen,
in erstickender Dunkelheit begraben. Und könnte sich
nicht befreien.
»Violet?«
Sie blinzelte. »Ja?« Sie hatte ihm noch nicht geantwortet.
»Von Chelsea«, stammelte sie. »Nur ein Zettel von Chelsea.«
Er legte besorgt die Stirn in Falten. »Alles okay bei dir?« Er
berührte ihre Wange.
Sie nickte. »Ich bin nur müde. Wahnsinnig müde.«
Er nahm es hin, er wusste ja, dass das stimmte. Sie war wirklich
müde gewesen.
Bis sie den Zettel gelesen hatte.
Jay musste an diesem Nachmittag arbeiten, deshalb hatte Violet
vorgehabt, nach Hause zu fahren und ein Nickerchen zu
machen. Doch als sie nach Hause kam, war ihr Vater noch auf der Arbeit und ihre Mutter weg. Also kam Schlafen nicht infrage.
Nicht in dem leeren Haus.
Sie lief herum und versuchte, sich zu entspannen. Es war verrückt,
dass sie ausgerechnet hier Angst hatte. Zu Hause hatte
sie sich noch nie gefürchtet, nicht mal als kleines Kind.
Sie hatte nie geglaubt, dass sich unter ihrem Bett oder im
Schrank ein Monster versteckte. Und sie brauchte noch nicht
mal ein Schlaflicht, um sich sicher zu fühlen.
Und jetzt fürchtete sie sich dort, wo sie sich sonst immer
geborgen gefühlt hatte.
Nur wegen dieses bescheuerten Zettels.
Sie holte ihn aus der Schultasche und las ihn noch einmal,
obwohl ihr das nicht weiterhalf.
Rosie ist tot
Violet veilchenblau
Du siehst mich nicht
Ich seh dich genau.
Seit ihrer Kindheit hatte sie diesen Reim immer wieder in allen
möglichen Variationen gehört. Aber noch nie hatte er so bedrohlich
geklungen, so unheilvoll. Violet verstand die Bedeutung,
die sich hinter den Worten verbarg.
Es war eine Botschaft von demjenigen, der ihr die tote Katze
vors Haus gelegt hatte. Derselbe, dem sie heute in der Schule
gefolgt war. Der- oder besser: diejenige â der Zettel war eindeutig
von einem Mädchen â verhöhnte und belauerte sie.
Und sie wusste, wo Violet wohnte.
Violet steckte den Zettel ganz unten in ihre Schultasche, lieÃ
im Wohnzimmer alle Rollos herunter, setzte sich im Dunkeln aufs Sofa und versuchte sich einzureden, dass ihr nichts passieren
konnte. Jetzt wäre sie gern wieder müde und
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