Ruf der verlorenen Seelen
wäre.
Es war sein Vater, Ed Russo.
Das Licht, das auf seiner Haut flackerte, war von einer unnatürlichen
Intensität, so grell, dass es in den Augen schmerzte.
Und das Schlimmste war, dass Violet die Ursache kannte.
Sie erinnerte sich an die Nacht, als sie zum ersten Mal von
diesem Flackerlicht aufgewacht war. Aber wie konnte dieser
Mann für den Tod der kleinen Katze verantwortlich sein, die
sie vor ihrem Haus gefunden hatte?
Die Frage machte ihr Angst.
Und jetzt? Jetzt waren sie beide zusammen in dieser abgelegenen
Hütte. Konnte das ein Zufall sein?
Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Sie fühlte sich von
den Umständen gefangen â dem Wetter, dem Ort, der Nähe zu
diesem Mörder. Sie konnte niemanden kontaktieren, ohne in
die Stadt zu fahren und um Hilfe zu bitten, und bestimmt wäre
es nicht klug, allein zu fahren.
Was konnte sie tun? Jay wecken? Den anderen erzählen, dass
Mikes Vater eine Katze getötet und sie ihr neben das Auto gelegt
hatte?
Wie sollte sie das erklären? Weshalb hätte er das überhaupt
tun sollen? Wieso ausgerechnet bei Violet? Sie sah den Mann
heute zum ersten Mal.
Und auÃerdem hatte sie den Zettel bekommen. Und die anonymen
Anrufe. Die konnten wohl kaum von diesem Mann
stammen.
Jetzt schien er gar nicht auf sie zu achten, es kümmerte ihn
nicht, dass sie da war.
Ihr schwirrte der Kopf und der Schmerz lieà sie keinen klaren
Gedanken fassen. Ihr wurde schwindelig. Aber da war noch
etwas anderes, was sich nicht länger verdrängen lieÃ.
Seit sie aufgewacht und der Mann ins Haus gekommen war,
zog es Violet mit aller Macht zurück in den Wald.
Zurück zu dem Echo.
Noch lange, nachdem es in der Hütte wieder still war und
Mikes Vater sich zum Schlafen auf den Dachboden verzogen
hatte, blieb Violet reglos liegen.
Dann wartete sie sicherheitshalber noch eine Weile, bevor
sie langsam aus ihrem Schlafsack krabbelte, so leise, dass die
anderen nichts hörten. Sie wollte Jay nicht wecken, er hätte sie
ganz bestimmt zurückgehalten. Und hier hielt sie es nicht länger
aus.
Sie zitterte am ganzen Leib, ihre Kopfschmerzen wurden
überlagert von dem unwiderstehlichen Drang, erneut nach dem
Echo zu suchen. Selbst die Blitze, die vom Dachboden kamen,
verblassten neben dem Bedürfnis, das zu finden, was unter dem
Schnee begraben lag.
Das Feuer brannte noch, irgendjemand, Mike oder Jay vermutlich,
musste in der Nacht Holz nachgelegt haben. Trotz
des Feuers fror Violet. Es war eine unangenehme Vorstellung,
hi naus in die Eiseskälte zu gehen, aber sie hatte keine andere
Wahl.
Schnell zog sie ihre dicken Wintersachen an, dann schnappte
sie sich eine Taschenlampe und ging lautlos, die Stiefel in der
Hand, zur Hintertür. Ohne zu atmen, öffnete sie vorsichtig die
Tür. Sie stellte die Stiefel in den Schnee und stieg hinein, dann
zog sie leise die Tür hinter sich zu.
Beim ersten Atemzug stach ihr die kalte Nachtluft in die
Lunge. Die Wärme unter ihrer dicken Daunenjacke wurde augenblicklich
vertrieben.
Ihr war eiskalt bis auf die Knochen.
Sie zog die Mütze tief über die Ohren, wickelte den Schal
übers Gesicht und blies ihren warmen Atem hinein.
Sie ging zum Schuppen und hoffte, dort irgendein Werkzeug
zum Graben zu finden.
In dem verfallenen Schuppen war es dunkel, selbst in der
Kälte roch das Holz modrig. Violet schaltete die Taschenlampe
ein. An einer Wand war Brennholz bis unter die Decke gestapelt.
An den anderen Wänden standen alte Kisten, verschiedene
Werkzeuge, von denen sie viele gar nicht kannte, eine Schneeschippe,
die ihr nicht brauchbar erschien, rostige Farbtöpfe,
ein alter Besen und eine klapprige Holzleiter. Violet hatte auf
einen Spaten gehofft, mit dem sie die harte Erde durchbrechen
könnte, aber sie fand keinen.
Doch dann entdeckte sie etwas, das vielleicht genauso nützlich
war. An dem Holzstapel lehnte eine Axt, damit lieà sich
wenigstens die Eisschicht aufhacken.
Mit der Axt in der Hand verlieà Violet die Hütte, die Taschenlampe
knipste sie aus.
So lange sie konnte, marschierte Violet in dem schwachen
Lichtschein, der von der Hütte kam. Die Taschenlampe wollte
sie erst wieder einschalten, wenn es gar nicht anders ging. Wenn auch alle schliefen, sie durfte kein Risiko eingehen.
Doch es war eine mondlose Nacht, der Himmel voller Wolken,
und nach einer Weile blieb ihr nichts anderes übrig, als
die Taschenlampe einzuschalten.
Der Strahl
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