Ruf der verlorenen Seelen
lieà es über dem Boden schimmern, es sah aus
wie feiner, ätherischer Nebel. Zu jeder anderen Zeit hätte Violet
ihn wunderschön gefunden. Doch jetzt war sie so auf ihr Vorhaben konzentriert, dass sie keinen Sinn für die Reize der
Winterlandschaft hatte.
Die Axt wurde schwer in ihrer Hand, sie legte sie zur Abwechslung
über die Schulter.
Mit jedem Schritt lieà Violet das Echo, das Mikes Vater trug,
in der Hütte hinter sich zurück. Doch schon bald hatte das
Echo aus dem Wald sie in der Gewalt. Ob sie wollte oder nicht,
sie musste darauf zugehen.
Sie brauchte gar nicht auf ihre Spuren im Schnee zu achten,
sie fand das Echo auch so mühelos wieder â oder besser, das
Echo fand sie.
Zauberei, dachte Violet, das Verlangen der Toten. Ihre Fähigkeit
war das reinste Wunder. Da merkte sie, dass der Schmerz
sie wieder packte.
Er steigerte sich, genau wie zuvor, dann stellte sich der
Rausch ein und ihr Kopf wurde leicht.
Sie war am Ziel.
Sie dachte an die kleine Katze in der Kiste und erst jetzt fragte
sie sich, was in der gefrorenen Erde liegen mochte.
Mike hatte gesagt, dass sein Vater Jäger sei, und Violet nahm
an, dass er auf gröÃere Tiere Jagd machte, auf Rehe und Hirsche.
Oder auf kleine, harmlose Katzen, dachte sie bitter.
Sie gab sich dem Rausch hin und sank auf die Knie.
Stolz
Megan lauschte in die Dunkelheit. Türen gingen auf und wieder
zu. Sie hatte sich daran gewöhnt, eine Wächterin der Nacht
zu sein.
Sie hatte ihren Vater hereinkommen hören, seine wankenden
Bewegungen verrieten, dass er getrunken hatte.
Noch lange, nachdem er im Bett war und die Geräusche der
Nacht verebbt waren, lag Megan wach.
Und dann war da plötzlich ein anderes Geräusch.
Erst dachte sie, es wäre nichts. Nur jemand, der aufs Klo ging.
Aber nein.
Sie lauschte angestrengt.
Es war kaum zu hören, und wenn sie nicht ans Fenster gegangen
wäre, hätte sie es verpasst. Jemand verlieà die Hütte.
Nein, nicht jemand. Violet.
Es war seltsam, Violet zu sehen, wie sie in Winterkleidung in
die unfreundliche Nacht hinausging. Vor wenigen Tagen noch hätte Megan vielleicht anders empfunden, wenn sie gesehen
hätte, wie ihre Rivalin in der Kälte verschwand.
Jetzt aber empfand sie etwas, womit sie nicht gerechnet
hatte. Neugier.
Und Sorge.
Anstatt sie zu verachten, war Violet freundlich zu ihr gewesen.
Sie hatte versucht, Megan in die Gruppe aufzunehmen,
trug ihr nichts nach und gab ihr eine zweite Chance.
Megan bereute, was sie Violet angetan hatte.
Es war ein merkwürdiges Gefühlswirrwarr.
Megan fasste unter ihr Kopfkissen und holte das kleine rosa
Halsband hervor, das sie dort aufbewahrte. Liebevoll umfasste
sie es, streichelte es mit geschlossenen Augen zwischen Daumen
und Zeigefinger.
Sie vermisste ihr Kätzchen, die kleine Streunerin, die sie heimlich
gefüttert und geliebt hatte. Sie vermisste, wie die Katze auf
sie gewartet, sich auf sie verlassen, sie wiedergeliebt hatte.
Es war das erste Mal gewesen, dass jemand Megan gebraucht
hatte. Wirklich gebraucht.
Doch auch das hatte ihr Vater ihr genommen.
Er erlaubte ihr nicht, geliebt zu werden.
Er war zu selbstsüchtig, um ihr etwas zu gönnen, also hatte
er das Problem auf seine Weise gelöst. Er hatte nicht mit ihr gestritten,
nicht verlangt, dass sie das Kätzchen wegjagte. Er hatte
es einfach in den Müll gesteckt, wo Megan es finden musste.
Jetzt hatte sie nur noch das Halsband, das sie für die Katze
gekauft hatte, und eine Bitterkeit, die nicht mehr wegging.
Ihr Vater hatte nie zugegeben, was er getan hatte, und Megan
hatte ihn nicht darauf angesprochen. Aber sie wusste, dass er
es gewesen war.
Sie war verzweifelt und voller Wut gewesen, als sie das Kätzchen
gefunden hatte. Und jetzt wusste sie, dass sie danach
falsch gehandelt hatte. Violet konnte ja nichts dafür, dass Megans
Leben nicht so war, wie sie es sich wünschte. Sie hätte
ihren Hass nicht gegen Violet richten dürfen.
Er war schuld, ihr Vater, und ihn verabscheute sie.
Megan hörte, wie er die knarrende Treppe vom Dachboden
herunterkam.
Ihr Magen zog sich zusammen, als sie unter die Decke kroch.
Sie war geübt darin, sich schlafend zu stellen.
Aber er kam gar nicht in ihr Zimmer.
Sie lauschte, wie ihr Vater durch die Hütte und zur Hintertür
hinaus stampfte.
Schnell trat sie ans Fenster und sah durch die vereiste
Scheibe, wie er durch den Schnee torkelte, ein Gewehr in
Weitere Kostenlose Bücher