Ruf der verlorenen Seelen
dunklen Ringe unter ihren Augen sah, sehnte sie sich schon wieder zurück ins Bett.
Seufzend band sie ihre widerspenstigen braunen Locken zu einem Pferdeschwanz. Alle sagten, was für ein Glück sie mit ihren Naturlocken habe, aber sie träumte von flieÃendem, glattem Haar, wie es die meisten anderen Mädchen in ihrer Schule hatten.
Nun ja â offenbar unterschied sie sich in mehr als einer Hinsicht von ihnen.
Wie viele besaÃen schon die Gabe, tote Wesen aufzuspüren, die gewaltsam ums Leben gekommen waren? Wie viele waren als kleines Mädchen stundenlang durch die Wälder gestreift auf der Suche nach toten Tieren, um sie zur letzten Ruhe zu betten?
Violet war eindeutig anders als die anderen. Schnell schob sie die verstörenden Gedanken beiseite, schloss die Haustür hinter sich und drückte wie jeden Morgen die Daumen, dass ihr altersschwaches Auto ansprang.
Ihr Auto
.
Ihr Vater nannte es einen Oldtimer.
Violet fand nicht ganz so freundliche Worte für den kleinen Honda Civic, Baujahr 1988, dessen Originallackierung nach Jahren im Regenwetter von Washington allmählich verblasst war. Für sie war es
das Wrack
.
Er ist zuverlässig
, hielt ihr Vater für gewöhnlich dagegen. Und Violet konnte ihm nicht widersprechen. Bis jetzt war der Honda trotz seiner morgendlichen Proteste â die ihren eigenen recht ähnlich waren â noch nie der Grund für ihre häufigen Verspätungen gewesen.
Auch heute lieà er sie nicht im Stich. Als sie den Zündschlüssel herumdrehte, hustete und röchelte er zwar, aber der Motor sprang gleich beim ersten Versuch an, und nach ein wenig gutem Zureden gab er das vertraute Brummen von sich.
Auf dem Weg zur Schule legte Violet einen Zwischenstopp ein, wie jeden Tag, seit sie vor sechs Monaten ihren Führerschein gemacht hatte: Sie holte ihren besten Freund Jay Heaton ab.
Bester Freund
. Der Ausdruck kam ihr seit Kurzem unpassend vor wie ein alter Turnschuh, der zu klein geworden war und plötzlich bei jedem Schritt drückte.
Im Sommer hatte sich viel verändert â zu viel für Violets Geschmack.
Jay und sie waren seit der ersten Klasse miteinander befreundet, damals war Jay gerade nach Buckley gezogen. Violet hatte ihm versprochen, seine Freundin zu werden, wenn er in der Pause ihre Klassenkameradin Kim Morton küsste. Natürlich hatte Kim ihn aus Rache für den Kuss geschubst, genau wie Violet es vorausgesehen hatte, und alle drei mussten sich mit der Direktorin über »persönliche Grenzen« unterhalten.
Nur ein einziges Mal hatten Violet und Jay selbst einen Vorstoà in Richtung Liebe gewagt. Sie hatten sich in der fünften Klasse mit fest geschlossenen Lippen geküsst, ein kleiner schneller Kuss, und dann noch einmal mit der Zunge. Es war ein weiches, glitschiges und fremdes Gefühl gewesen. Beide waren sich sofort einig gewesen, dass Küssen ekelhaft war und sie es auf keinen Fall noch mal versuchen wollten. Und so belieÃen sie es dabei, gemeinsam auf unzähligen Touren ihre Umgebung zu erkunden und ganze Teile des Waldes auf Karten zu verzeichnen, die sie mit ihren Namen oder Kombinationen ihrer beider Namen versahen, wie etwa: »Jaylet-Strom«, »Amberton-Wald« oder »Hebrose-Pfad«.
Jay war neben ihren Eltern, ihrer Tante und ihrem Onkel der Einzige, der von ihrer auÃergewöhnlichen Gabe wusste und der begriff, dass Violets Fähigkeit ein Geheimnis bleiben und wie ein Schatz gehütet werden musste.
Zusammen waren sie auf der Suche nach toten Tieren oft durch Farndickichte und Brombeerhecken gestreift, um sie hinter Violets Haus auf dem selbst angelegten Friedhof zu beerdigen, den sie
Schattenfeld
genannt hatten. Damals waren sie gerade zehn Jahre alt gewesen und der Name hatte düster und unheilvoll geklungen. Sie hatten einander Geschichten von den furchterregenden Dingen erzählt, die sich dort bestimmt zutrugen, vor allem nachts, und hatten Wetten abgeschlossen, wer von ihnen sich traute, dort ganz allein bis zum Einbruch der Dunkelheit auszuharren.
Violet hatte immer gewonnen und Jay hatte diese Tatsache anstandslos hingenommen. Er schien zu verstehen, dass ihr der Ort keine Angst einjagte, selbst wenn sie so tat, als ob.
Er verstand vieles.
Er wusste auch, wie wichtig es für sie war, die toten Tiere zur Ruhe zu betten, damit sie Violet nicht mehr riefen. Sie verströmten eine Energie wie ein Leuchtfeuer, das Violet zu ihnen
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