Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
die Lüge ab. Freundlich wie sie war, ließ sie mich sogar in Armands Wohnung, damit ich mich ausruhen konnte.
Um der gegenseitigen Gesellschaft willen, die wir beide sehr genossen, aßen wir gemeinsam zu Abend. Scaramouche leistete uns Gesellschaft. Ich genoss es, ihn auf dem Schoß zu halten und zu kraulen. Im Moment war er das einzig Greifbare, was ich von Armands Leben um mich haben konnte. Von der Wohnung im oberen Stockwerk abgesehen, die mir ohne meinen Geliebten tot, kalt und unwirklich vorkam. Ich vermisste ihn schmerzlich. Deshalb beschloss ich, nach dem Essen auszugehen. Morgen konnte ich mir dann überlegen, was ich als nächstes unternehmen wollte, um ihn zu finden. Wenn ich mich allein in seine Wohnung zurückzog, würde ich vermutlich vor Verzweiflung die Wände hoch gehen. Eleonora nannte mir einige Clubs und irische Pubs. Sie wollte lieber nicht mitkommen, gab mir aber ein Dutzend Ratschläge, wie ich mir unerwünschte Verehrer vom Hals halten könnte und sagte mir, wo ich auf gar keinen Fall hingehen durfte. Eine Mutter hätte nicht besorgter sein können. Schließlich zog ich los. Allein, melancholisch, aber fest entschlossen, meine kleine Freiheit zu genießen. In einer Disco, die mir Eleonora als ‚absolut in’ und auch ‚absolut sicher’ beschrieben hatte, tanzte ich mir meinen Frust von der Seele. Ich bekam zwar das eine oder andere Angebot zum Tanzen, aber meine jeweiligen Partner akzeptierten sehr schnell, dass aus dem Tanzen nicht mehr werden würde.
So sehr ich mich auch bemühte, wirklich amüsieren konnte ich mich nicht. Ich verließ die Diskothek gegen halb elf und machte mich auf den Weg zu einem kleinen gemütlich Pub im French Quarter, wo ich vor dem Zubettgehen noch einen Schlummertrunk einnehmen wollte.
Das Schicksalsrad beginnt seinen Lauf
Etwa in Höhe der Dumain Street bekam ich das unbestimmte Gefühl, dass mich jemand beobachtete. Zwei Seitenstraßen weiter hörte ich meinen Namen und folgte einem stimmenlosen Ruf. Möglicherweise war es Armand, redete ich mir voller Hoffnung ein. Ich gelangte in eine kleine Sackgasse, deren Ende völlig im Dunkeln lag. Das Licht der Straßenlaternen reichte nicht bis hierher.
„Armand?“
„Nein, nicht Armand“, antwortete mir die gleiche klanglose Stimme, die mich auch hierher geführt hatte. Ich trat mit butterweichen Knien tiefer in die Schatten. Meine Nackenhaare stellten sich auf. ‚Pass auf! Pass auf!’ warnte Osira mich aus meinem tiefsten Inneren, aber ich war schon zu weit in die Gasse vorgedrungen. Dort, in einem der Hauseingänge, sah ich ihn stehen. Einen großen, stattlichen Mann. In dunkelblauen Samt gekleidet. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen.
„Wer sind Sie?“
Langsam trat er vor, hinein in die schwachen Lichtstrahlen, die bis hierher drangen, und mir stockte der Atem. Dunkel und schön war er, fast unwirklich. Makellos und unwiderstehlich. Unleugbar dämonisch, aber mit einem Hauch von Melancholie und Weltschmerz, der tief ins Herz schnitt. Ein Vampir, ganz zweifellos. Er war jung, vielleicht Mitte Zwanzig – sterblich gesehen – mit nachtblauen Augen und schulterlangem schwarzem Haar, das sein weißes Antlitz umschmeichelte. Seine Lippen, so blass, dass sie wie Perlmutt wirkten, waren wunderschön geschwungen und lächelten leicht.
„Wer bist du?“, fragte ich wieder und konnte nicht sagen, woher das plötzliche Beben in meiner Stimme kam.
„Ich bin Tizian“, sagte er. Seine tiefe, warme Stimme lullte mich ein.
Ich schloss die Augen. Das alles konnte unmöglich real sein. Ich stand da wie gebannt. Unfähig, mich zu bewegen. Meine Lippen zitterten, aber ich hatte keine Angst vor diesem Vampir. Obwohl mir klar war, dass er mich mit einem Wimpernschlag töten konnte. Er trat nah zu mir heran und küsste mich mit kühlen Lippen auf die Stirn, strich mein Haar zurück. Sein Blick war tief und endlos.
„Hab keine Angst“, sagte er mit seinen Gedanken. „Ich werde dir nichts tun.“
Er sah so unschuldig aus. Sicher hatte keines seiner Opfer je Angst gehabt. Vor ihm konnte man keine Angst haben. Er küsste mich auf den Mund. Zärtlich und tief. Ich schmeckte Blut und stellte fest, dass es seines war, nicht meines. Ein Tropfen nur. Doch er genügte. Ich trieb davon, in eine längst vergangene Welt. Sah Feuer, Erdbeben, einen Vulkanausbruch. Zähe Lavaströme. Menschen – schreiend, flüchtend – fielen übereinander. Kinder – fortgerissen von ihren Müttern. Verbrannte, verstümmelte
Weitere Kostenlose Bücher