Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
entgegen, als er auf mich zukam. Meine Sehnsucht nach ihm war unerträglich. Aber er hielt mich auf Abstand. ‚Nicht hier’, sagte sein Blick. Ich schmiegte meinen Kopf an seine Brust und schloss die Augen. Ganz gleich, wo er mich hinbringen würde – Hauptsache, er war bei mir. Ich spürte, wie wir den Boden unter den Füßen verloren. Gleich darauf wurde es merklich kühler. Als wir wieder sicher landeten und ich mich umschaute, waren wir irgendwo draußen auf dem Land, vor einer großen Scheune.
„Hier sind wir ungestört“, sagte Armand leise und zog mich mit nach innen. Stroh und Heu türmten sich bis unter die Decke.
„Im Heu?“, fragte ich und musste grinsen.
„Pourquoi pas? Warum nicht? In Frankreich damals war es oft das Heu, ma chère. Und es hat nie eine der Damen gestört.“ Er ging auf einen riesigen Berg losen Strohs zu, während er mich schelmisch schmunzelnd mit dem Finger lockte. Die Damen? Das hieß wohl, dass es viele gegeben hatte. War er ein Lebemann gewesen, als Mensch? Sicher hatte er keine Mühe gehabt, Frauen scharenweise zu sich ins Bett zu holen. Bei seinem Aussehen. Damen! Wie viele mochten es gewesen sein in seinem sterblichen Leben? Und wie viele in den Jahrzehnten danach, nach seiner Wandlung zu diesem wunderschönen, unwiderstehlichen Unsterblichen? „Was ist los, Mel? Was quält dich?“ Er streckte sich im Stroh aus. Dabei ließ er mich keine Sekunde aus den Augen. Die Art, wie er mich ansah, verriet, dass es ihn tatsächlich kümmerte, was ich dachte.
„Du warst schon mit vielen Frauen zusammen, nicht wahr?“
„In zweihundert Jahren waren es so einige.“ Er fand die Frage amüsant.
„Ich meine, bevor du zum Vampir wurdest.“
Er wurde ernst. „Kümmert es dich, was ich vor so langer Zeit getan habe?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht.“
„Ich war kein Mönch. Das ganz sicher nicht. Ich liebte die Frauen, den Wein und das Glücksspiel. Ich liebte es sogar, mein Leben zu riskieren in unzähligen sinnlosen Duellen.“ Er schwieg eine Weile, sein Blick ging in weite Ferne. Die Erinnerung war nicht ganz angenehm, wie es schien. „Es ist schon eine seltsame Ironie.“
„Was?“
Er lachte kurz auf, ein wenig bitter. „Gerade, als ich mich entschlossen hatte, mein Leben zu ändern, ruhiger zu werden, ein anständiges Mitglied meiner hochangesehenen Familie, da kam der unsterbliche Tod, um mich in eine Welt zu holen, in der meine neu gefassten, heheren Ziele keine Bedeutung mehr hatten.“
Ich biss mir auf die Unterlippe. Er sprach so gut wie nie darüber, wie es geschehen und wer sein Schöpfer gewesen war.
„Wie ist das, wenn man verwandelt wird?“
Armand seufzte tief, erhob sich wieder von seinem bescheidenen Lager und kam zu mir. Sicher suchte er nach Worten, die der Wahrheit entsprachen, mich aber nicht gleich entsetzten. Er wollte mir nichts vormachen, wollte mich jedoch auch nicht ängstigen. Schließlich hatte er sein Vorhaben, mich ebenfalls in die Unsterblichkeit zu holen, noch immer nicht aufgegeben.
„Es ist seltsam“, erklärte er, während er mit einem Strohhalm spielte und an mir vorbei ins Nichts starrte. „Verwirrend. Beängstigend. Erst siehst du dein ganzes Leben an dir vorbeiziehen. Der Vampir saugt es aus dir heraus, wenn er von dir trinkt. Er nimmt alles in sich auf, was du bist. Damit nichts an Wissen und Erinnerung verloren geht, wenn wir töten. Die Liebe, die Träume, die Sehnsüchte, die Erfahrungen. Und ebenso die gesamte Verzweiflung. All die Ängste, all die Sorgen und auch all die Trauer. Wir nehmen unseren Opfern alles. Und damit müssen wir dann leben. Mit den Ängsten und den Verzweiflungen. Und manchmal auch mit den Abgründen. Den Verbrechen, die unsere Opfer begangen haben. Danach gieren wir ganz besonders. Wenn wir wandeln, geben wir die Erinnerungen auch wieder zurück – und behalten sie doch in uns. Irgendwie. Wenn du das Dunkle Blut bekommst, dann siehst du die Seele, die Vergangenheit deines Schöpfers. Sein ganzes Leben, alles was ihn ausmacht. Es wird ein Teil von dir. Besonders der Vampir, denn er gibt ihn an dich weiter. Wie, das weiß ich nicht, aber man spürt ganz deutlich, wenn er von Körper und Geist Besitz ergreift. Da ist etwas, das vorher nicht da war. Und das ist sehr stark. Man ergibt sich ihm, weil man spürt, dass es sinnlos wäre, dagegen anzukämpfen. Man würde sich nur selbst verlieren. Vielleicht haben die, die wahnsinnig geworden sind, oder die Wandlung gar nicht erst überlebt haben,
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