Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
praktische Erfahrung. Warum tat George nicht irgendwas? Er arbeitete seit Jahren auf diesem Gebiet. Aber er stand nur beobachtend an der Tür.
„Sie war plötzlich da. Diese Frau in Purpur, über die die Leute im Dorf geredet haben. Die Hexe, die verbrannt worden ist. Ich hab das alles nur für ein Märchen gehalten. Und dafür wollte sie sich rächen. Weil ich nicht an sie geglaubt hab. Es war schrecklich. Ich war ganz allein. Nur mit diesem Geist. Und alles war dunkel. Und dann die Schmerzen. Ich weiß nicht woher. O Gott!“
Er verbarg sein Gesicht in den Händen und begann hemmungslos zu weinen. Wie ein Kind, das nicht versteht, was ihm angetan wird. Behutsam nahm ich wieder seine Hand in die meine. Ich öffnete mein Drittes Auge, um in sein Unterbewusstsein zu schauen, aber dort fand ich nichts anderes als die Bilder, die er mir schilderte. Was stimmte hier nicht? Etwas konnte nicht in Ordnung sein, wenn sogar sein Unterbewusstsein an das glaubte, was man ihm suggeriert hatte. Kein Mensch könnte das erreichen, egal, welche Drogen er benutzte.
„Können Sie sich an Stimmen erinnern, Jonathan? Oder an die Dinge, die Ihnen Schmerzen verursacht haben? Waren es vielleicht Nadeln?“
Ich betete im Stillen, dass ich seinem Geist nicht zuviel zumutete. Aber wenn es nicht die Frau in Purpur gewesen war, dann musste er in irgendeinem Winkel seines Unterbewusstseins etwas gespeichert haben, das die Wahrheit zeigte.
Seine Augen begannen sich wild hin und her zu bewegen. Er sah wie ein Wahnsinniger aus, aber ich zwang mich, seine Hand nicht loszulassen. Nur der Körperkontakt konnte mir die Bilder vermitteln, wenn sie so tief in ihm verborgen lagen.
Der Blitz, der mich durchfuhr, war höllisch. Ich hörte mich aufschreien. Ich spürte, wie ich Georges Hand wegschlug, und dann brach eine Flut von Bildern über mich herein. Überall Kerzen, ein Mann – Jonathan – der sagte ‘Das ist Wahnsinn. Dafür kommen Sie ins Gefängnis. So was nennt man Freiheitsberaubung!‘, dann eine Spritze mit einer bläulichen Flüssigkeit. Ein Brennen, das sich aus der Armvene in jede Faser des Körpers ausbreitete. Ein Messer, auf dem sich das Kerzenlicht spiegelte. Worte, die ich nicht verstand. Eine Frau in Purpur und eine zweite, männliche Stimme: ‘Das ist die Rache der Frau in Purpur‘. Wieder Schmerzen, dann eine plötzlich einsetzende süße Schwere. Kupfergeschmack auf meiner Zunge. Lockende Worte. Schmeichelnde Stimmen. Gefolgt von neuen Schmerzen, neuen Spritzen, Brennen in allen Gliedern. Schließlich völlige Dunkelheit, erlösend und gnädig. Irgendwann plötzlich grelles Tageslicht, das die Augen blendete und Stimmen einer Menschenmenge. Als ich wieder zu mir kam, war mein Körper taub. Ich sah den Amerikaner zusammengekrümmt am Boden liegen. Nur ein Zucken verriet, dass er noch lebte. Allmählich drang Georges Stimme zu mir durch und ich merkte, dass ich ebenfalls auf dem Boden lag.
„Ich bin in Ordnung.“ Dabei war ich mir gar nicht sicher. Ich schloss die Augen, um die Bilder noch einmal bewusst heraufzubeschwören, damit sie nicht in meinem Unterbewusstsein verloren gingen. Erschrocken klammerte ich mich an George fest. „George! Das ist schrecklich. Es ist nicht der Geist der Frau in Purpur, aber es ist auch kein Mensch mit dem wir es zu tun haben.“
Eine Stunde später befanden wir uns auf der Rückfahrt. Mir war noch immer kalt. Ich hatte einen leichten Schock. Der Amerikaner war bewusstlos geworden und hatte bis zu unserer Abfahrt das Bewusstsein nicht wiedererlangt. George hatte Jean Beaulais, den Vater des Calais de Saint, angerufen und darum gebeten, dass sie ihn abholten. Dieser Mann brauchte keine Psychiatrie. Er brauchte nur Menschen, die die nötige Erfahrung hatten, um ihm über die Begegnung mit übernatürlichen Wesen hinwegzuhelfen. Im Mutterhaus konnte man analysieren, was genau mit ihm geschehen war und ihm helfen. Mir half außer George keiner.
Aber ich wusste, womit wir es zu tun hatten – im Groben zumindest. Ich hatte nur noch nie gehört, dass übernatürliche Wesen sich moderner Mittel wie Drogen bedienten, um ihre Opfer zu manipulieren. Bei den meisten waren die medialen Fähigkeiten so stark entwickelt, dass sie unbedarfte Menschen spielend leicht manipulieren konnten. Und Jonathan war ganz sicher unbedarft. Also dienten die gewählten Methoden nur dazu, eine falsche Fährte zu legen. Wer auch immer sie waren, sie hatten damit gerechnet, dass man uns hinzuziehen würde. Und
Weitere Kostenlose Bücher