Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
besser als ich, denn du bist von meinem Blut.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Sie hat bereits so viel getrunken, dass der Hunger kommen wird. Willst du mir etwa einreden, dass du sie dann leiden lässt? Dass du ihr verwehren wirst, wonach es sie dürstet? Nur damit sie den Zeitpunkt wählen kann? Sie hat keine Wahl mehr. Weil du sie willst, wird sie dir folgen müssen. Ebenso wie du einst mir folgen musstest. Und wie ich dich genährt habe, so wirst du sie mit Freuden nähren. Du hast es bereits getan. Dein Blut in ihren Adern hat euch beide verraten. Wie oft hat sie getrunken? Sie kannte den Rausch bereits, bevor ich sie nahm. Also gib nicht mir die Schuld für das, was geschehen ist. Du trägst ebenso viel Verantwortung wie ich.“
Armand blieb ihm die Antwort schuldig, und Lemain verschwand wie eine erlöschende Flamme. Lautlos, spurlos. Ich atmete tief aus, als er fort war. Armand streckte eine Hand nach mir aus, ließ sie aber wieder sinken.
„Er hat Recht. Ich trage ebenso viel Schuld wie er.“
Unfähig, etwas zu sagen, streckte ich ihm meine Hand entgegen, und er nahm sie zögernd.
„Setz dich zu mir“, flüsterte ich heiser. Als er tat, worum ich ihn gebeten hatte, zog ich ihn an mich. „Halt mich einfach nur fest. Mir ist gleichgültig, wer wie viel Schuld trägt. Ganz unschuldig werde ich sicher auch nicht sein. Aber ich habe solche Angst, dass du mich verlässt, Armand!“
Überrascht und erschrocken blickte er mich an. „Warum sollte ich dich verlassen?“
„Weil er mich berührt hat. Weil er ein Teil von mir geworden ist. Ich spüre den Hass zwischen euch. Ich spüre ihn in mir. Selbst euer Blut kämpft gegeneinander.“ Armand hielt mich fest. Er brauchte keine Worte, um mir die Gewissheit zu geben, dass er mich nie verlassen würde. Ich wusste nicht warum, aber ich bedeutete ihm mehr als sein eigener Seelenfrieden. Im Augenblick war ich einfach nur froh darüber und wollte nicht nach Gründen fragen. „Wird er wiederkommen?“
„Jetzt, wo er mich gefunden hat …“
„Ich habe Angst vor ihm.“
„Ich weiß, ma chère. Und ich muss gestehen, ich auch. Ich floh vor ihm, weil ich ihn so sehr liebte, dass ich ihn gleichzeitig hasste, und darum habe ich Angst vor ihm.“
„Liebst du ihn noch immer?“
Ich glaubte schon, er würde mir die Antwort schuldig bleiben, als er leise sagte: „Um das zu verstehen, muss man alles wissen. Gib mir Zeit, es dir zu erklären. Und vergib mir schon jetzt, mon cœur.“
Wir kuschelten uns Trost suchend aneinander. An uns beiden fraß die Angst. Bei mir waren die Erinnerungen einfach noch zu frisch. Ich schmeckte Lemains Küsse, spürte seine Hände überall auf meiner Haut, und einen anderen Teil von ihm tief in mir. Schluchzend barg ich mein Gesicht an Armands Schulter, und er tröstete mich, obwohl er selbst unter der spürbaren Nähe seines Dunklen Vaters litt.
„Kannst du diese Erinnerung verschwinden lassen? Sie heilen mit deinem Blut, so wie du Wunden heilst?“
Er schüttelte stumm den Kopf und drückte einen Kuss auf mein Haar. Diese Macht hatte er nicht. Nicht für mich und nicht für sich selbst.
Der heilige Hain
Ich brauchte mehr als zwei Wochen, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. Die Kinder der Ashera ließen mir diese Zeit und hießen mich am ersten Morgen, an dem ich wieder im Gemeinschaftsraum frühstückte, willkommen, als wäre nichts gewesen. Wie viele von ihnen mochten um das Geschehene wissen? Franklin hatte nichts dazu gesagt, aber im Mutterhaus blieb auch nichts verborgen. Doch es gab keine Fragen. George war der Einzige, dem man es anmerkte. In meinem Zimmer hatte er mich nicht besucht. Jetzt, als er mir beim Frühstück gegenübersaß, wirkte er um Jahre gealtert und wagte kaum, mich anzusehen. Noch immer gab er sich die Schuld an dem, was geschehen war. Und Franklin fühlte sich ebenso schuldig, weil er mich dorthin geschickt hatte, statt selbst zu gehen. Aber wie hätten sie wissen sollen, wer unser Gegner war? Und George hatte doch auch keine Wahl gehabt. Ich selbst hatte ihm keine andere gelassen, als auf Lemains Forderung einzugehen und mich als Pfand zurück zu lassen. Die Ashera beschützte ihre Kinder, doch sie stand auch über dem Einzelnen.
Armand gab allein Franklin die Schuld. Ich hatte die beiden streiten hören. Vermutlich hatte es das ganze Haus gehört. Seit diesem Streit hatten sie kein Wort mehr miteinander gesprochen.
Meine Arbeit in der Gemeinschaft nahm ich
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