Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
droht. Warum warst du damals nicht da, als Margret mich gefangen hielt und auf dem Scheiterhaufen hinrichten wollte?“ Der Gedanke war mir erst kürzlich gekommen, nachdem Franklin mir von Crests Verschwinden berichtet hatte.
Meine Wölfin machte ein betroffenes Gesicht, winselte leise und legte den Kopf beschämt auf ihre Vorderpfoten, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen.
„Ich habe es versucht, Mel. Glaub mir, ich hab es versucht. Aber unsere Verbindung war noch zu schwach. Und es war ihr Wald. Ihr Zauber. Ich konnte einfach nicht zu dir durchdringen. Wenn ich daran denke, was geschehen wäre, wenn Armand dich nicht gerettet hätte … Ich hätte mir das nie verzeihen können, wenn du aufgrund meines Versagens gestorben wärst.“
Ich verstand. Meine Wölfin und ich hatten damals erst seit wenigen Tagen Verbindung zueinander aufgebaut. Ich war nicht mal auf die Idee gekommen, sie zu rufen, in meiner Angst. Ob ihr das den Weg frei gemacht hätte? Wer konnte das heute schon noch sagen. Wir waren beide zu schwach gewesen. Zu wenig miteinander vertraut. Ich hätte sie das vielleicht gar nicht fragen dürfen, denn es traf sie sehr tief, dass sie mir damals nicht zur Hilfe gekommen war.
Ich dachte an Margret Crest. Fragte mich, was wohl aus ihr geworden war. Mein letzter Besuch in Thedford hatte in einem weiteren Anschlag auf mein Leben geendet. Danach hatte ich keinen Fuß mehr in die Nähe meines einstigen Zuhauses gesetzt. Nachdem Franklin mir in Miami erzählt hatte, dass Margret fort, das Haus verlassen und der Wald von ihrem Zauber befreit war, hatte ich im Zentralrechner nach den letzten Eintragungen gesucht. Gawin Thorne hatte diese Information vor knapp zwei Monaten eingespeist. Er hatte das Anwesen auf Franklins Geheiß unter Beobachtung gehalten. Ich hatte davon gewusst, mich aber nicht weiter darum gekümmert. Jetzt verlor sich jede Spur von der Frau, die mich großgezogen und dann beinah getötet hatte. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie irgendwo da draußen auf mich wartete. Und nach Camilles Brief war dieses Gefühl lebendiger denn je.
Osiras leises Winseln riss mich aus den Gedanken.
„Tut mir leid, Liebes“, sagte ich und kraulte ihren Kopf. „Es ist lange her. Lassen wir die Geister ruhen.“
*
Die abgelegene, halb verfallene Hütte im Wald, verborgen hinter einem Dickicht aus Dornengestrüpp und Tannen, sah tatsächlich unheimlich aus. Aber ihn störte so etwas nicht. Das modrige Holz roch nach Blut. Es war vollgesogen davon. Wie viele Opfer mochten es inzwischen schon gewesen sein? Und da bezeichneten die Menschen Geschöpfe wie ihn als Bestien. Pah!
Die Tür schwang quietschend auf. Man hätte sie dringend mal wieder ölen sollen. Dahinter lag alles im Dunkeln. Er schaute sich um, bis er ein paar Kerzen auf einem grob gezimmerten Tisch in der Ecke entdeckte. Mit einem Fingerschnippen ließ er sie aufflammen.Die kleinen, blauen Flämmchen wurden von unzähligen metallenen Gegenständen reflektiert, die ordentlich aufgereiht an der rechten Wand hingen. Direkt über einer langen Werkbank, deren Oberfläche sich dunkel verfärbt hatte.
Er berührte sie mit den Fingern, ein Hauch von Rot blieb daran haften. Das Blut war noch nicht getrocknet. Vielleicht vom Vortag. Sie würden also bald die nächste Leiche finden. Das grob gezahnte Messer, das die Reißzähne des Wolfes nachahmen sollte, steckte links in einem kleinen Holzpflock. Die Klinge war blutig. Vorsichtig roch er daran. Blut von mehr als einem Opfer. Der Mörder machte sich schon seit einer Weile nicht mehr die Mühe, seine Werkzeuge zu reinigen. Ein perfektes Beweisstück.
Jetzt musste er nur noch die frische Leiche finden, ehe Melissa sie entdeckte. Er nahm das Messer an sich, verbarg es in den Tiefen seines schwarzen Mantels, ehe er wieder vor die Tür trat. Von dort sprang er sogleich auf einen nahegelegenen Baum. Bloß keine Spuren im Schnee hinterlassen. Witternd hielt er die Nase in den Wind. Welche Richtung? Der frisch gefallene Schnee verdeckte etwaige Spuren. Doch seinem feinen Geruchssinn entging der Duft von frisch vergossenem Blut nicht.
Da war es. Eine schwache süßliche Note zwischen harzigem Kiefernduft, nassem Tierfell und verrottenden Blättern. Der Wind stand günstig. Er würde den Kadaver bald finden.
*
Um unnötigen Fragen zu entgehen, war ich erst gar nicht im Gasthof erschienen, sondern hatte mich direkt in den Wald begeben. Armand war heute Nacht tatsächlich nach Bukarest
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