Ruf des Blutes 4 - Unschuldsblut (German Edition)
der Welt flog er nicht einfach zur Insel? Als Vampir war das doch ein Leichtes für ihn. Dieser Vampir erschien mir seltsam, wenn er seine Fähigkeiten nicht nutzte, sondern lieber wie ein Mensch lebte. Aber vielleicht war das die Erklärung, warum er in der Chirurgie arbeiten konnte. Weil er den Vampir in sich unterdrückte und ignorierte, wo immer es ihm möglich war. Dazu bedurfte es viel Selbstdisziplin, das wusste ich aus eigener Erfahrung. Ich hatte nicht lange durchgehalten mit meinen menschlich-ethischen Moralvorstellungen, die ich über meine vampirische Natur stellen wollte. Heute konnte ich sehr gut mit einem Kompromiss leben, aber das Töten fiel mir nicht mehr schwer. Ich wählte nur die Art meiner Opfer gezielt aus.
„Er ist wirklich brillant. Seine übernatürlichen Fähigkeiten verleihen ihm einen Perfektionismus, der fast schon unheimlich ist“, plauderte Lucien drauflos und versuchte offenbar, mir Mr. Blenders schmackhaft zu machen. Wie ein Vater, der seiner Tochter eine gute Partie verkaufen will. Die Parallelen waren durchaus da, denn Lucien war mein Mentor, das Oberhaupt unseres Vampirzweiges und ich gerade solo, was in seinen Augen die reinste Verschwendung darstellte. Er spielte doch nicht wirklich mit dem Gedanken, mich zu verkuppeln?
„Aber ein Vampir in der Chirurgie? Ich finde das immer noch so … so …“
„Es ist ungewöhnlich, durchaus“, bemerkte Lucien und lachte dann über meinen unentschlossenen Gesichtsausdruck. „Mel, die Zeiten, wo wir uns auf einsamen Burgen versteckten sind vorbei.“
„Du versteckst dich noch immer auf einer einsamen Burg“, korrigierte ich.
„Das tue ich nicht, und das weißt du auch. Ich habe mich nie versteckt. Ich genieße den Ruf eines exzentrischen Millionärs. Aber ich ziehe mich nicht vom Leben zurück, ich stürze mich mitten hinein.“
Er nahm mich in die Arme und ich ließ es geschehen.
„Heutzutage kenne ich kaum einen der unseren, der sich noch versteckt. Wir agieren nicht mehr als Phantome, aus dem Verborgenen heraus. Wir leben nicht mehr in Gräbern oder Grüften. Wir sind Teil der lebendigen Welt, mit allem, was dazugehört.“
Irgendetwas stimmte nicht. Solche Ansprachen hatten Seltenheitswert. Die Tatsache, dass er in seinen vier Wänden für andere Vampire kochte gehörte schon ins Museum der Kuriositäten. Angriff ist die beste Verteidigung, dachte ich mir.
„Du suchst aber nicht gerade einen neuen Lover für mich, oder?“
Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sein Blick so dunkel und unergründlich, dass er mir Angst machte, doch dann traf mich seine Aussage wie ein Schlag und zerstreute gleichzeitig alle Zweifel ob seiner Absichten.
„Steven entstammt Tizians Blutlinie.“
Er entkorkte gelassen eine Flasche Merlot und beobachtete interessiert, wie sich diese Information bei mir auswirkte. Von meiner Sprachlosigkeit abgesehen musste ich mich erst mal setzen, denn diese Tatsache irritierte mich derart, dass mir für einen Moment schwindelig wurde. Lucien unterhielt eine Freundschaft zu einem Vampir der Bruderlinie? Wir stammten alle von den Urgeschwistern Kaliste und Tizian ab. Beide hatten je dreizehn Dunkle Nachkommen in die Nacht geholt. Aus diesen Lords und Ladys, zu denen auch Lucien gehörte, waren alle Nightflyer der Welt entstanden. Aber eine Legende besagte, dass das Blut der Geschwister mit einem Fluch belegt sei, damit sie einander nie wieder nahe kommen konnten. Sie waren dazu verdammt, die Ewigkeit getrennt voneinander zu verbringen. Die beiden Linien durften sich niemals mischen, sonst drohte uns allen der Tod. Ich hatte keine Ahnung, wie genau das geschehen sollte, doch da ich einen Tropfen von Tizians Blut noch aus sterblicher Zeit in mir trug, hatte ich das Aufeinandertreffen der beiden Dämonen bereits einmal am eigenen Leib erfahren und verspürte keine große Lust, das zu wiederholen. Es gab ein Gesetz, dass die Familien rein bleiben sollten, um jede Gefahr auszuschließen. Selbst die dreizehn unterschiedlichen Blutlinien eines Geschwisterteils durften sich nicht vermischen. Meine Dunkle Tochter Ivanka hatte sterben müssen, weil sie diese Regeln brach, das war mir eine Lehre gewesen.
„Ist das nicht gefährlich?“, fragte ich in Anbetracht all dieser Umstände.
„Oh“, Lucien winkte ab, „denke nicht immer gleich an so was,
thalabi
. Unsere Beziehung ist rein platonisch. Wir wissen beide ein gutes Buch und einen guten Tropfen zu schätzen.“ Er ließ offen, ob er damit Traubenblut oder
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