Ruf des Blutes 4 - Unschuldsblut (German Edition)
fluchte, und versuchte, sich auszubalancieren, doch die Erschütterungen hatten unangenehme Auswirkungen auf die fragile Beschaffenheit des Untergrundes. Quiekend suchten die Ratten das Weite, kannten sich wohl in den Gängen aus. Ihm fehlte diese Möglichkeit, er konnte nur hoffen und beten, dass diese gläserne Welt hielt.
Mit Erleichterung stellte er fest, wie die Erschütterungen nachließen. Bloß schnell hier raus, ehe es zu einem neuerlichen Vorfall dieser Art kam. Er arbeitete sich nun schneller voran, wagte aber nicht, die Füße allzu stark anzuheben, weil er jedes Mal, wenn er sie wieder absetzte, um die Stabilität des Bodens fürchtete. Doch auch dort ragten immer höhere Grate hervor und bald glitt er auf seinen blutverschmierten Sohlen aus, wurde gegen die engen Wände gedrückt, die schon fast einem Schacht glichen und ein Gefühl von Klaustrophobie auslösten, das er nicht gewohnt war. Die Luft war geschwängert vom Geruch seines Blutes, das auch wieder die Ratten anlockte. Warm floss es über seine Arme, seinen Brustkorb, bildete kleine Pfützen unter seinen Füßen. Trotzdem dachte er nicht daran aufzugeben. Er wollte sich kein weiteres Mal entmutigen lassen. Wütend trat er nach einem der pelzigen Geschöpfe, die um ihn herum wuselten und versuchten, ihm in die Zehen und Knöchel zu beißen, angestachelt vom Blutrausch, der sich ihrer bemächtigte. Der kleine Tierkörper flog nicht sehr weit, prallte gegen eine gläserne Wand, brachte sie zum Bersten und Armand warf sich gerade noch rechtzeitig auf die Knie, hob schützend die Arme über den Kopf, ehe ein Meer von rasiermesserscharfen Splittern auf ihn herab regnete. Wie Nadeln stachen und ritzten sie seine Haut, drangen unter die Überreste seiner Kleider und scheuerten immer neue Stellen seines Körpers auf. Er hielt den Atem an, um nicht hauchfeine Partikel zu inhalieren, die ihm die Lungenflügel zerfetzten. Erneut begann die Erde unter ihm zu beben, ausgelöst durch die Wucht des einstürzenden Glases. Von seiner Position dehnten sich breite Risse aus. Sekundenbruchteile überlegte er, ob er den Versuch wagen sollte, seine Flugfähigkeit wieder zu testen, doch da war es zu spät. Das Gebilde gab nach und Armand stürzte durch zwei Ebenen auf die unterste Fläche.
Er schlug hart auf, spürte feuchte Wärme, die unter ihm hervor sickerte und realisierte, dass dieser Boden aus unterschiedlichlangen, spitz zulaufenden Scherben bestand, die ihm tief ins Fleisch schnitten, ihn regelrecht aufspießten. Er stöhnte vor Schmerz, wollte sich erheben, den gläsernen Dolchen und Nadeln entkommen, aber sein Blut machte den Boden so glitschig, dass er immer wieder wegrutschte und sich die tödlichen Kanten jedes Mal tiefer in ihn gruben.
Dieses Glas glich der Eifersucht, die in ihm gärte, seit er Melissa zu sich in die Nacht geholt hatte. Genauso beißend scharf, genauso durchschaubar. Es schnitt tief in sein Fleisch wie das Gefühl des Besitzenwollens in seine Seele, und mit einem Mal wurde ihm klar, wie kalt und schneidend es sich für Mel angefühlt haben musste. Seine Raserei, seine unkontrollierte Wut, die haltlosen Anschuldigungen. Bei Dracon, Lucien, Warren. Wie sehr musste er sie damit verletzt haben. Zweimal hatte er aus reiner Selbstsucht von ihr verlangt, ihre ureigenste Natur zu verleugnen. Als sie noch sterblich war, hatte er erwartet, dass sie seine Lust und Triebhaftigkeit bei der Jagd tolerierte, sogar die Leidenschaft, die er mit ihrem Vater teilte. Jetzt konnte er ihren Schmerz nachfühlen, den die harten Splitter symbolisierten, als wollten sie ihn läutern. Und dann, als sie endlich sein Wesen und seinen Hunger verstehen konnte, weil er ein Teil von ihr geworden war, verlangte er von ihr, dass sie dem entsagte und sich nur ihm allein hingab, weil er nicht willens war, sie mit irgendwem zu teilen. Wie sehr musste sie ihn lieben, dass sie ihre Gefühle unterdrückte und sich nach seinen Wünschen richtete? War sie wirklich glücklich damit? War er es? Sollte es nicht ihr Bestreben sein, den anderen glücklich zu machen, statt nur an sich selbst zu denken? Melissa hatte diese Bedingung voll und ganz erfüllt, mehr noch als das. Doch er hatte dies nicht wertgeschätzt, sondern vorausgesetzt. Wie schäbig, das konnte man kaum Liebe nennen. Aber er liebte sie.
Falls er hier jemals wieder rauskam und ihr gegenüberstand, wollte er ihr das mit aller Deutlichkeit sagen und zeigen. Ihr die Freiheit geben, die ihresgleichen brauchte, die
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