Ruf des Blutes 5 - Erbin der Nacht (German Edition)
Schicksals für einen Moment denken sollte, dass sie ihm überlegen war. Er sorgte für jede Eventualität vor, überließ nichts dem Zufall. Das hatte er nie. Von dem Moment an, als Armand ihn in den Sümpfen von New Orleans aufgesucht und sich ihm angeboten hatte, war Lucien klar gewesen, dass diese Blutlinie das Schicksal in sich barg, das von dem Tempelorakel prophezeit worden war. Nach der alten Schriftrolle, die in Ägypten verblieben war und die durch einen Zufall – er hatte Athaír in Verdacht – in Melissas Hände geraten war, hatten viele von ihnen geglaubt, die Schicksalskriegerin würde Tizians Linie entstammen, weil durch ihre Hand er am Ende der Sieger sein würde. Doch Lucien war schon damals klar gewesen, dass nur ein Abkömmling von Kalistes Linie die Kraft besitzen konnte. Tizians Blut war zu schwach, er hatte mehr von der sterblichen Mutter. Kaliste trug Magotars Blut weiter, darum hatte der Unterweltsgott sie auch stets vorgezogen. Und nun wendete sich ihr eigenes Erbe gegen sie.
All ihre Ränke waren gescheitert. Die zahllosen Versuche, sich Melissas Vertrauen zu erschleichen, sie an sich zu binden mit Leid und mit Hoffnung gingen nicht auf. Dafür hatte er gesorgt, nicht gezögert, sich nicht gescheut, ihren Zorn auf sich zu ziehen. Beinah wäre er dadurch in Anubis’ Totenschiff gesegelt. Der einzige kleine Wermutstropfen, dass er nun in Dracons Schuld stand, doch das konnte er verschmerzen.
Sein dunkler Sohn war mit seiner eigenen Nachkommenschaft beschäftigt, und Armand hielt sich für einen Unbesiegbaren, weil er die Festung ohne Wiederkehr überwunden hatte. Die beiden konnte er getrost vernachlässigen.
Aber Franklin war sein Trumpf, um Melissa unter Kontrolle zu halten. Und Blue sein Springer, mit dem er sowohl Kaliste als auch seine kleine Füchsin schachmatt setzen konnte, sobald es nötig war. Sein Geheimnis war nicht mit Gold und Juwelen aufzuwiegen, und auch ihn hatte er mit denselben Mitteln an sich gebunden, wie Franklin. Lust, Schmerz und das Wissen um die dunkelsten Geheimnisse, die in einer Seele lauerten. Der Sieg lag zum Greifen nah, Melissa stand schon am Rande des Abgrunds, den sie in Kürze bezwingen musste. Es fehlte nur noch ein kleiner Stoß, damit sie den ersten Schritt tat.
Alwynn sah besorgt aus, als Armand seinen Freund aufsuchte.
„Wir haben Neuigkeiten von unseren anderen Stützpunkten bekommen“, erklärte der Gestaltwandler ohne Umschweife. „Was in Miami angefangen hat, geschieht inzwischen überall auf der Welt. Die weltlichen Bars, in denen wir uns treffen, werden angegriffen. Die meisten von uns ziehen sich gänzlich an Treffpunkte wie diesen zurück, weil alles andere zu gefährlich ist. Die Waffe ist mit unterschiedlicher Munition geladen, die immer den größtmöglichen Schaden anrichtet. Da weiß jemand genau, wer in diesen Clubs verkehrt und wie man die jeweilige Hauptspezies verletzen kann.“
Armand stieß zischend die Luft aus. Dass sich die Lage zuspitzen würde, hatte er erwartet. Doch nicht so bald. Verdammt!
Seine Kiefermuskeln spannten sich, während er um Ruhe rang. Nicht nur wegen Alwynns neuen Informationen. Seit sich die Angriffe mehrten, verbreiteten sich Mutmaßungen und Zweifel über die Gedanken der Lords und ihrer direkten Nachkommen. Keiner hatte Mels kleines Kriegsszenario gegen die Crawler vergessen. Ebenso wenig wie ihre Beteiligung an dem Darkworld-Komplott und dessen Vereitelung. Die Frage, ob man ihr trauen konnte, oder ob sie – allein oder für jemand anderen – erneut in die Kämpfe und Attentate verstrickt war, wurde immer lauter. Ihr einziger Schutz bestand in Luciens Fürsprache. Das schmeckte ihm zwar nicht, beruhigte ihn aber.
Die Gedanken der Ältesten wären früher nicht zu ihm durchgedrungen. Die Botschaften der Lords für ihn verborgen gewesen. Doch seit er aus der Festung ohne Wiederkehr entkommen war, besaßen seine Sinne eine schier unbegrenzte Kraft. Zuweilen marterten die vielen Stimmen und Emotionen, die auf ihn einströmten seinen Geist und seinen Körper derart, dass er sie bewusst ausblenden musste, um nicht wahnsinnig zu werden. Das Netz aus Lügen, Intrigen und Machtspielen in den eigenen Reihen machte ihn krank. Die einen standen auf Kalistes Seite, die anderen gaben dem Bruder den Vorzug, wobei die Abstammung nicht immer eine Rolle spielte. Die meisten waren sogar der Meinung, dass man beide entmachten sollte.
Er wollte damit nichts zu tun haben. Das Einzige, was ihm wichtig war,
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