Ruf Des Dschungels
die entkommen waren, und suchten nach ihren Toten. Als sie mich entdeckten, brachten sie mich wieder zu meiner Mutter und meiner Tante. Viele Menschen waren an jenem Tag umgekommen; die Überlebenden aber flohen bald darauf in den Dschungel. Sie wagten es nicht, zurückzukehren, völlig traumatisiert von dem, was sie erlebt hatten.
Im Dschungel starben dann noch viele weitere an Unterernährung oder Malaria, andere suchten verzweifelt nach Angehörigen oder irgendjemandem, den sie kannten und der noch am Leben war.
Ein Jahr lang lebten meine Mutter, meine Tante und ich unter einem Baum und ernährten uns von Insekten, Pilzen und was wir sonst an Essbarem fanden. Meine Mutter musste schließlich erkennen, dass wir auf diese Weise nicht mehr lang durchhalten würden, denn es gab weit und breit keinen Mann, der für uns jagen oder uns eine Unterkunft bauen konnte. Deshalb beschloss sie, den Fluss Mulik zu überqueren und nach weiteren Familienmitgliedern zu suchen.
Wir gingen über eine Brücke, und bevor wir noch kehrtmachen und fliehen konnten, waren wir von Soldaten umringt. Sie kamen auf uns zu und fragten mich nach meinem Namen, und ich sagte ihnen, ich hieße Benny Wenda.
›Dann töten wir dich‹, erwiderten sie, ›weil du der Sohn eines OPM -Mitglieds bist.‹ Ich klammerte mich verzweifelt an meine Mutter, als sie nach mir griffen.
Plötzlich erschien ein Papua. Er winkte und bedeutete ihnen, sie sollten sofort aufhören. Ich sei ein Verwandter von ihm und keineswegs der Sohn jenes OPM -Mitglieds. Dieser Mann hat mir das Leben gerettet, denn sie ließen mich tatsächlich gehen. Aber das Grauen war noch nicht zu Ende. Sie griffen sich meine Tante, die jung und sehr hübsch war, und vor meinen Augen und denen meiner weinenden Mutter vergewaltigten die Soldaten sie wieder und wieder. Ich verstand nicht, was vor sich ging, aber ich wusste, dass sie meiner Tante etwas Schreckliches antaten.
Wir flohen zurück in den Dschungel und stießen endlich auf einige Verwandte, darunter einen meiner Onkel. Wir schlugen uns weiterhin unter schwierigsten Bedingungen durch, bis die Männer eines Tages entschieden: Wenn wir leben wollen, müssen wir uns den Indonesiern ergeben. Gemeinsam gingen wir also in ein nahe gelegenes Dorf und stellten uns dem Militärposten.
Die Soldaten brachten uns in ein Lager, wo sie uns in Reihen aufstellten, die kräftigen Männer auf einer Seite, die Älteren und Kranken sowie die Frauen und Kinder auf der anderen. Dann drehten sie sich zu den Männern um und töteten sie alle, einen nach dem anderen. An diesem Tag verlor ich mehrere Angehörige. Es war ein Schock für uns, den Worte nicht beschreiben können.
Wir Übrigen mussten in diesem Lager leben, und ich beobachtete Tag für Tag schreckliche Gräueltaten, wenn etwa die Soldaten jungen Mädchen von neun oder zehn Jahren befahlen, zum Fluss hinunterzugehen und sich zu waschen, um sie anschließend zu vergewaltigen. Auch meine Tante wurde nicht verschont und immer wieder misshandelt. Die älteren Frauen mussten für die Soldaten waschen, putzen und kochen.
Nach einigen Monaten fällte meine Mutter die Entscheidung, dass wir hier wegmussten. Also flohen wir einmal mehr und begannen den langen Weg über die Berge, zurück in unser Heimatdorf. Das war 1982 .
Wir wanderten ein Jahr lang. Der anstrengende Marsch begann unserer Gesundheit zu schaden, weil wir mit wenig und manchmal gar nichts zu essen durch unwegsames Gelände gehen mussten. Als wir unser Dorf endlich erreichten, war ich halb verhungert, aber wir hatten es geschafft und ergaben uns erneut dem Militärposten. Auch hier waren die starken Männer getötet worden, hingerichtet wie Verbrecher, dabei bestand ihr einziges Verbrechen darin, dass sie papuanischer Abstammung waren.
Bald erfuhren wir vom entsetzlichen Schicksal eines meiner Onkel, der bei der OPM aktiv gewesen war. Das Militär hatte ihn zu fassen bekommen, und um vor den anderen Dorfbewohnern ein Exempel zu statuieren, hatten die Soldaten ihn erst geschlagen, dann hatten sie ihn so fest, dass er sich nicht mehr rühren konnte, an einen Fahnenmast gefesselt, an dem die indonesische Staatsflagge hing. Am nächsten Tag legten sie ihm einen Strick um den Hals, gruben ihn so tief ein, dass nur noch sein Kopf herausschaute, und zwangen ihn, von neun Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags direkt in die Sonne zu blicken. Sobald er versuchte, die Augen zu schließen, schlugen sie ihn so lange, bis er sie wieder öffnete.
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