Ruf Des Dschungels
Nach einer Weile lief ihm Blut wie Tränen aus den Augen, und als sie ihn ausgruben, war er blind. Sie schleiften ihn an dem Strick um seinen Hals durchs Dorf und begruben ihn lebendig.
Während ich diese Geschichte erzähle, brennt mein Herz vor Schmerzen. Wie kann jemand so etwas einem anderen Menschen antun? Damals war ich zu jung, um wirklich zu verstehen, was da vor sich ging. Ich wuchs auf mit der Frage: Warum? Ich hatte alles gesehen, die Schläge, die Bomben, Mord und Vergewaltigung. Ich sah Dörfer brennen, Tausende Menschen in die Berge und den Dschungel fliehen, Tränen und Leid, Hunger und Durst. Und ich konnte nichts anderes denken als: Warum?
Schließlich beruhigte sich die Lage ein wenig, doch Tausende papuanischer Männer waren ermordet worden oder spurlos verschwunden, ganze Dörfer waren zerbombt oder niedergebrannt, Hunderte unschuldiger Frauen vergewaltigt worden.
Doch hatten die Niederländer uns nicht die Freiheit zugesagt? Hatten die Vereinten Nationen und Amerika uns nicht eine Chance versprochen, selbst über unsere Zukunft zu entscheiden? Hatte Indonesien nicht ein Abkommen unterzeichnet? Wo waren sie jetzt alle?
Ein Mann aus Papua eröffnete in unserem Gebiet eine Schule, und ich besuchte sie. Im Laufe der Jahre fragte ich meine Mutter immer wieder, warum wir im Dschungel gelebt hätten und wo unsere Familie sei, doch sie wollte nicht darüber sprechen. Ich wuchs heran und begann die Geschichten, die ich von papuanischen Landsleuten erfuhr, in meiner Erinnerung zu sammeln.
Als es Zeit für die Highschool wurde, ging ich an eine indonesische Schule. Bald nachdem ich dort angefangen hatte, spuckten mich die javanischen Schüler an. Ich überlegte, ob ich vielleicht stank, denn ich hatte noch nie etwas von Diskriminierung gehört. Ich ging nach Hause und wusch mich, oft dreimal hintereinander, zog frische Kleidung an, aber sie hörten nicht auf zu spucken. Schließlich erkannte ich, dass es an der Farbe meiner Haut und meiner Haare lag.
Nach der Highschool besuchte ich die Universität in Jayapura und forschte in der Bibliothek nach dem ›Act of Free Choice‹, entdeckte jedoch keine einzige Seite, keinen einzigen Satz darüber. Alles, was ich herausfand, war die Tatsache, dass sich Papua der Republik Indonesien angeschlossen hatte und der Name in Irian Jaya geändert worden war.
An der Universität rief ich heimlich eine Studentenbewegung ins Leben, tat mich mit Kommilitonen zusammen, und im Laufe der Zeit erhielt die Bewegung regen Zulauf. In den folgenden Jahren wurde ich mehrmals verhaftet, oft geschlagen, aber immer wieder nach Hause geschickt, weil die Polizei nie Beweise gegen mich in der Hand hatte. Das geheime Netzwerk wuchs, und als Präsident Suharto stürzte, begannen wir zu protestieren und zum ersten Mal öffentlich unsere Stimme zu erheben.
Im Jahr 1999 wurde ich zum Vorsitzenden der DEMMAC ernannt, einer Organisation zahlreicher Dörfer im Hochland. Ein Jahr später vereinten sich die Papua und bildeten einen Rat namens PPC , das Papua-Präsidium, geleitet von Theys Eluay. Und dann, eines Tages, erlaubte uns Indonesien tatsächlich, unsere Staatsflagge als Symbol unserer Kultur zu hissen. In allen Teilen des Landes wurde wieder Flagge gezeigt, Tausende Menschen strömten auf die Straßen, weinten, jubelten und tanzten. Doch wenige Wochen später war alles vorbei. Theys Eluay wurde ermordet, und seine Mörder wurden zu lächerlichen zwei bis drei Jahren Haft verurteilt. Alles fiel auseinander, Präsidentin Megawati verbot unsere Staatsflagge erneut, und die Unterdrückung der Papua begann von neuem.
Schließlich floh ich mit meiner Frau nach Papua-Neuguinea. Im Jahr 2002 kehrte ich nach Jayapura zurück, um an einem wichtigen Treffen teilzunehmen. Ich hatte es zweimal geschafft, unbemerkt ins Land ein- und wieder auszureisen, doch diesmal hatte ich kein Glück. Ich wurde verhaftet und am 8 . Juli 2002 ins Gefängnis gebracht, wo ich acht Monate lang blieb. Menschen aus der ganzen Welt setzten sich für mich ein, selbst in Australien und England forderten sie meine Freilassung, das Rote Kreuz besuchte mich sogar im Gefängnis.
Aber ich wusste, dass ich unschuldig war, und blieb in meiner Zelle, um den Ausgang meines Verfahrens abzuwarten. Laut der jüngsten Anklage hatte ich die Morgenstern-Flagge gehisst, und darauf stand eine Freiheitsstrafe von bis zu fünfzehn Jahren.
Dann änderte sich etwas. Die Polizei verzweifelte allmählich, weil sie keine Beweise gegen
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