Ruf Des Dschungels
gegenüberstand und wir uns in die Arme fielen? Wie ich mit dem Stamm ein Wildschwein teilte oder durch den Dschungel wanderte?
Nein!,
denke ich bei mir. Das werde ich nicht tun.
Ja, ich werde ein weiteres Buch schreiben.
Aber dieses zweite Buch wird anders sein. Es wird nicht nur die Rückkehr zu dem Ort meiner Kindheit beschreiben, es wird weit darüber hinausgehen. Denn ich habe endlich eine Entscheidung getroffen.
Habe ich mir hierzulande nicht selbst einen Namen gemacht? Ist meine Geschichte inzwischen nicht weltweit bekannt? Ist dies nicht eine Gelegenheit, all jenen eine Stimme zu verleihen, die längst verstummt sind?
Ich möchte eine Geschichte erzählen, eine Geschichte, die nicht bloß von einem kleinen Mädchen handelt, das inmitten eines vergessenen Stammes im tiefsten Dschungel aufgewachsen ist. Sondern die eines Mädchens, das zu einer erwachsenen Frau wurde – einer Frau, die auf der Suche nach ihrer verlorenen Heimat ist.
Doch es ist eine traurige Geschichte. Denn sie handelt von einem Volksstamm, der so gut wie keine Chance hat, die Zukunft zu erleben.
Eines Tages werden auch diese Menschen mit einer Regierung konfrontiert werden, die schon so viele andere Stämme vertrieben hat. Warum sollte es bei den Fayu anders sein? Wer wird das Verschwinden dieses kleinen Stammes, der kaum mehr als eintausend Angehörige zählt und mitten im Dschungel lebt, überhaupt bemerken?
Sabine und Fusai
Diese Angst trage ich Tag und Nacht in mir. Eine Angst, die mich anspornt weiterzumachen, ungeachtet dessen, was es mich kosten mag. Denn selbst in der finstersten Dunkelheit gibt es einen Hoffnungsschimmer. Es ist nur ein winziger Funke, den all die nähren, die sich bis zum heutigen Tag für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit einsetzen. Doch dieser Funke kann eines Tages zur lodernden Flamme wachsen und die Dunkelheit erhellen. Und wenn es mir tatsächlich gelingen sollte, einen kleinen Beitrag – und sei er noch so gering – zu dieser Sache zu leisten, dann war es jede schmerzliche Träne wert, die ich in den letzten Jahren vergossen habe. Denn was sind mein Schmerz und mein Leiden im Vergleich zum Leid all jener, die für ihr Land und ihre Heimat starben?
Wofür lebst du, Sabine?
Ich lebe für meine Kinder, für mein Volk, für mein Land – und für eine lebenswerte Zukunft.
In mir ist eine neue Hoffnung erwacht, die Hoffnung, dass ich eines Tages nach West-Papua zurückkehren werde, um dort in Frieden meinen Lebensabend zu verbringen. Dass ich eines Tages wieder über den majestätischen Dschungel schauen kann, dass ich die Schönheit des Lebens gemeinsam mit jenen Menschen genießen kann, die mich mit offenen Armen in ihren Kreis aufgenommen haben, ungeachtet meiner Hautfarbe, meiner Herkunft oder meines Passes. Denn das Einzige, was für sie zählt, ist mein Herz – ein Herz, das im Einklang mit dem ihren schlägt.
Ich habe auf den beiden Reisen nach West-Papua etwas Wichtiges gelernt: Ich habe gelernt, dass wahre Heimat nicht ein Ort oder ein Land ist, sondern allein in unseren Herzen liegt. Heimat, das sind die, die wir lieben, die wir schätzen und denen wir vertrauen. Heimat, das sind unsere Freunde, unsere Familie, unsere Kinder. Es ist etwas, das wir schützen und für das wir manchmal kämpfen müssen. Wenn wir es schaffen, miteinander in Frieden und Gerechtigkeit zu leben, dann haben wir unsere Heimat endgültig gefunden.
Und mit dem Entschluss, dieses Buch zu schreiben, schreite ich durch die Tür.
Ich habe einen Traum.
Ich stehe auf der Kuppe eines Hügels und betrachte den Horizont. Vor mir Bäume, das kristallblaue Wasser und über mir der endlose Himmel, der mich wie eine weiche Decke umhüllt.
Ich weine. Doch dies sind keine Tränen der Trauer, auch nicht des Schmerzes oder der Wut. Es sind Freudentränen. Denn endlich hat meine Seele aufgehört zu bluten.
Ich sehe um mich und spüre den Anbruch einer neuen Zeit. Eine Ära der Freiheit und einen Neubeginn für ein Land, das mit Blut befleckt ist.
Doch ich weiß, dass dieser rot getränkte Boden eines Tages wunderschöne weiße Blüten hervorbringen wird, die sich über die Erde ausbreiten. Und in den Jahren danach werden Kinder die Blüten sehen und sich daran erinnern, welche Opfer gebracht wurden, um sie wachsen zu lassen.
Für mich dagegen wird es das Ende einer Reise sein. Wie eine verlorene Seele bin ich umhergewandert, immer auf der Suche nach innerem Frieden und einer Antwort auf die Frage, wohin
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