Ruf Des Dschungels
musste: Wie sein Land von Indonesien geraubt wurde, wie sein Stamm zerstört und in alle Richtungen zerstreut wurde; dazu all die brutalen Menschenrechtsverletzungen, die er mit eigenen Augen gesehen hatte. Wäre ich an seiner Stelle normal geblieben? Können wir, die wir in der Sicherheit der westlichen Welt leben, uns das überhaupt vorstellen? Ich habe, wie so viele aus West-Papua, großen Respekt vor ihm.
In dem Brief stand, dass er uns treffen wolle. Er hatte über Steffens Netzwerk erfahren, dass wir kämen, und sich auf die lange Reise durch den Urwald in das Flüchtlingsdorf gemacht. Er kündigte sein Kommen für den nächsten Tag an, falls die Sicherheitslage es erlauben würde. Insgeheim hatten wir gehofft, ihn zu treffen, damit gerechnet hatten wir jedoch nie!
Bis tief in der Nacht diskutierten die Männer über die neuen Entwicklungen. Irgendwann konnte ich die Augen nicht mehr offen halten und legte mich unter das Moskitonetz, das wir mitgebracht hatten. Trotz meiner Müdigkeit war es eine sehr unruhige Nacht, heiß und schwül, und meine Gedanken kreisten um den kommenden Besuch.
Es war noch sehr früh am Morgen, als ich aufwachte. Mir tat vom Schlafen auf dem harten Boden alles weh. Es hatte geregnet und war kühl geworden. Ich schlüpfte unter dem Moskitonetz hervor und suchte jemanden, der mir Wasser heiß machen konnte, um mir aus dem mitgebrachten löslichen Kaffeepulver einen Kaffee zu brauen. Als ich die Treppen nach unten kletterte, sah ich, unter welchen Umständen die Menschen schliefen: zum Teil direkt auf dem Boden, ohne Decken, oder auf kleinen Brettern, die am Rand der Wand befestigt waren. Die kleinen Kinder schliefen im Arm der Mütter oder neben ihnen. Einige Frauen waren schon auf und entfachten ein Feuer. Draußen hatte es wieder zu regnen angefangen, und eine unangenehme Feuchtigkeit lag in der Luft, die selbst in der Hütte die Kleidung am Körper durchnässte.
Nach einiger Zeit brachte man uns kochendes Wasser in einem großen Topf, und wir setzten uns zusammen, tranken Kaffee, aßen Süßkartoffeln, schwatzten und warteten ungeduldig auf die Ankunft von Mathias Wenda.
Dann: von weitem ein Rufen. Was hatte es zu bedeuten? Kurz danach hörten wir es noch einmal, und es war klar: Mathias Wenda und seine Männer waren angekommen! Sofort versammelten sich die Flüchtlinge draußen vor den Hütten und stellten sich in einer Reihe auf. Einige der Papua hatten sich mit Federn und Pflanzen geschmückt, andere hatten ihren Körper mit Erde beschmiert, ein Zeichen der Trauer. Steffen und ich stellten uns in eine Reihe mit dem Leiter des Flüchtlingslagers, unseren drei Kontaktmännern und Toni.
Ich schaute den Hügel hinauf, die Spannung in mir wuchs. Durch den Regen hatte sich ein leichter Nebel über das Land gelegt, was der ganzen Szenerie etwas Unheimliches verlieh. Plötzlich erschien ein Mann aus dem Nebel. Ich erkannte ihn als denjenigen, der uns am Vorabend den Brief gebracht hatte. Bald darauf folgte eine ganze Gruppe von Menschen, die in einer Reihe hintereinander liefen. Es waren auch einige Frauen dabei, die ihre Körper mit Erde beschmiert hatten und die traditionellen Grasröcke trugen. Die Männer waren zum Teil ebenfalls traditionell gekleidet. Andere trugen Armeeuniformen, doch alle waren mit Pfeil und Bogen bewaffnet.
Als sie uns erreichten, hielten sie inne. Stille trat ein. Keiner sagte ein Wort. Aus der Mitte der Gruppe trat ein Mann, und sofort wusste ich – oder besser gesagt, ich spürte –, dass dies nur einer sein konnte, der berühmte Mathias Wenda.
Er war untersetzt, trug eine Uniform und einen Hut. Sein Alter schätzte ich auf über 60 Jahre. Eine ernsthafte Aura umgab ihn, und trotz seines Alters strahlte er eine stählerne Stärke aus. Er wandte sich zu der Gruppe von Flüchtlingen und begrüßte jeden Einzelnen wortlos. Die Stille war jetzt so präsent, dass ich das Gefühl hatte, alle könnten mein Herz schlagen hören.
Schließlich drehte Mathias Wenda sich um und kam direkt auf uns zu. Er schüttelte allen die Hand, dann stand er vor mir. Er legte seine Hand in meine, und als ich ihm in die Augen schaute, glaubte ich in seine Seele blicken zu können. Freudige Wärme durchströmte mich, Tränen schossen mir in die Augen. Hier stand ein Mann, der für so viele – und auch für mich – ein Held, ein Symbol für die Unabhängigkeit West-Papuas war. Stammte nicht auch ich aus West-Papua? Was für eine Freude, diesen Mann leibhaftig vor
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